Age Gap im lesbischen Kino - Begehren über Altersgrenzen hinweg
Von „Mädchen in Uniform“ über „Carol“ bis zum Berlinale-Gewinner „Oslo Stories: Träume“: Warum erzählt das lesbische Kino so häufig von Liebe und Begehren mit großen Altersunterschieden? Ein Blick auf das, was sich dahinter verbirgt.
Wilson Webb/ DCM War für sechs Oscars nominiert: „Carol“ (2005) mit Rooney Mara und Cate BlanchettErschienen in der L-MAG-Ausgabe 5-2025 (Nov./ Dez.)
Von Annabelle Wintermayr
Es war einer dieser Berlinale-Momente, in denen die zufällig aufgeschnappten Gespräche im Anschluss beinah spannender sind als der Film selbst. Zwei Kritikerinnen diskutierten – hörbar aufgebracht – über Oslo-Stories: Träume, ein zartes Drama über die Intensität der ersten großen Liebe (L-MAG-Filmkritik). Dag Johan Haugeruds Werk, das wenige Tage später mit dem Goldenen Bären ausgezeichnet wurde, handelt von der 17-jährigen Johanne, die sich Hals über Kopf in ihre Lehrerin verliebt.
„Leidige Romantisierung eines Machtgefälles“, sagte die eine. „Unglaubwürdig“, nannte die andere die Gefühle der Jüngeren, die – so legt es das Finale nahe – von der Älteren nicht erwidert werden. Ich war irritiert. Nicht nur, weil ich selbst noch beseelt war von der Feinsinnigkeit, mit der Oslo-Stories: Träume erzählt. Sondern auch, weil die Leidenschaft, mit der die Kolleginnen die vermeintliche Verherrlichung eines Begehrens über Altersgrenzen hinweg kritisierten, an den Kern des lesbischen Kinos rührt.
Agnete Brun Der Berlinale-Gewinnerfilm „Oslo Stories“ (2025) mit Selome Emnetu und Ella Øverbye Liebe mit Altersunterschied: Grundmuster im lesbischen Kino
Denn ein Blick auf dessen Geschichte zeigt: Altersunterschiede zwischen Frauen sind hier keine Ausnahmen – sondern Grundmuster. Schon 1931, in dem, was oft als erster lesbischer Film der Kinogeschichte gilt – Mädchen in Uniform – ist das Begehren das einer Schülerin zu ihrer Lehrerin (2026 kommt ein Remake des Films).
Was damals noch als gefährliches Gefühl im Korsett eines autoritären Systems verhandelt wurde, fand sich später in weiteren Meilensteinen und ist heute zu einer fast schon klassischen Ausgangslage geworden.
Auch in Desert Hearts (1985), dem ersten breitenwirksamen lesbischen Film mit glücklichem Ende, begegnet man einem deutlichen Altersunterschied. Carol (2015), Freeheld (2015), Ammonite (2020) – immer trifft eine junge Frau auf eine ältere, oft geheimnisvolle Figur.
Ob Loving Annabelle (2006), La Belle Saison (2016) oder der 2025 erschienene Hot Milk (L-MAG-Filmkritik) – das Echo ist ähnlich. Doch warum erzählen so viele lesbische Filme von Begehren mit Altersunterschieden – und spiegelt sich das auch in der Realität?
Deutsche Film-Gemeinschaft Gilt als weltweit erster Lesbenfilm: „Mädchen in Uniform“ (1931) mit Dorothea Wieck und Hertha ThieleGelebte Realität?
Die Forschung dazu ist dünn. Eine kanadische Studie von 2001 zeigt, dass dort 18 % der lesbischen Frauen in Beziehungen mit einem Altersunterschied von mehr als zehn Jahren lebten – doppelt so viele wie in heterosexuellen Partnerschaften. Besonders aussagekräftig ist das nicht, aber es deutet an, dass die filmische Tradition nicht völlig an der Realität vorbeigeht.
Vielleicht, weil lesbische Beziehungen anderen Zeitlichkeiten folgen. Während Heterobeziehungen meist entlang gesellschaftlich getakteter Biografien verlaufen – Haus, Ehe, Kinder –, bewegen sich queere Lebensläufe oft außerhalb dieser Ordnung. Wer mit 27 sein Coming-out erlebt, lebt mit 35 vielleicht zum ersten Mal in einer offen lesbischen Beziehung. Gefestigte Identität bemisst sich dann nicht allein in Jahren, sondern stärker in Erfahrungen: Wie lange bin ich schon sichtbar? Wie oft musste ich mich erklären?
In diesem anderen Zeitmodell – in der Queer Theory als „Queer Time“ beschrieben – kann eine Jüngere in Bezug auf ihre Queerness sogar das „reifere“ Gegenüber sein. Eine Dynamik, die sich auch in vielen Filmen spiegelt: In Desert Hearts etwa umwirbt die geoutete Mittzwanzigerin Cay die ältere, sozial scheue Literaturprofessorin Vivian.
Desert Hearts Prod. Der erste Mainstream-Lesbenfilm von einer offen lesbischen Regisseurin: „Desert Hearts“ (1985) mit Patricia Charbonneau und Helen Shaver Nicht Hierarchie, sondern Horizont
Im lesbischen Kino markiert Altersunterschied kein starres Machtgefälle, sondern einen symbolträchtigen Unterschied. Vor allem in Coming-of-Age-Geschichten steht die ältere Frau nicht für Kontrolle, sondern für Möglichkeiten und Perspektiven: Sie verkörpert eine denkbare Zukunft, eine Verheißung auf ein anderes Leben. Gerade in provinziellen, einengenden Umständen wie in Mädchen in Uniform oder dem Berlinale-Gewinnerfilm wird sie zur Projektionsfläche, zum begehrenswerten Anderen außerhalb des Alltags.
Da überrascht es kaum, dass es meist die Jüngeren sind, die den ersten Schritt machen – so auch in Ammonite, in dem sich die Adlige Charlotte behutsam der prekär lebenden Paläontologin Mary Anning nähert.
Das lesbische Kino übernimmt damit keine patriarchalen Logiken, es unterläuft sie: Während heterosexuelle (Liebes-) Filme oft zeigen, wie ältere Männer jüngere Frauen „nehmen“, um Macht zu sichern, geht es hier nicht um Absicherung oder Aufstieg in einem bürgerlichen System – sondern um Intimität abseits davon.
Statt Jugendkult begehrt das lesbische Kino die erfahrenere Frau
Mehr noch: Die Jüngere wird nicht als passives Objekt inszeniert, die Ältere nicht als weniger begehrenswert. Statt eines Jugendkults, der Frauen ab einem bestimmten Alter unsichtbar macht, begehrt das lesbische Kino die erfahrenere Frau – nicht trotz, sondern wegen ihrer Geschichte. Die Jüngere wiederum ist oft Initiatorin, Impulsgeberin, zeigt Wege auf, die die Ältere sich bislang nicht erlaubte oder, wie in Carol, längst nicht mehr zu gehen wagte.
Vor diesem Hintergrund erscheinen die Bedenken der Kritikerinnen im Berlinale-Foyer nicht unverständlich – aber unangebracht. Oslo-Stories: Träume romantisiert kein problematisches Gefälle. Der Film erzählt von Projektion, Sehnsucht, einer anderen Erfahrungswelt während der weiterhin oft schwierigen Phase des Coming-outs.
Er steht damit in einer langen Tradition des lesbischen Kinos, das bei aller Unaufgeregtheit im Erzählen von Begehren über Altersgrenzen hinweg eben auch das ist: subversiv – weil es eine andere Vorstellung von Verbundenheit anbietet. Und vielleicht ist der Altersunterschied gerade deshalb so wirkungsvoll als filmischer Sehnsuchtsort – weil er hier nicht von Hierarchie erzählt, sondern von Hoffnung, nicht von Ordnung, sondern von Aufbruch.

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