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„Vor jeder großen, guten Entwicklung gibt es Chaos und Widerstand“

Emilia Roigs Lebensthema ist eine gerechte Welt. L-MAG sprach mit der Wissenschaftlerin und Gründerin des Center for Intersectional Justice über ihre beeindruckendes Leben und ihre Vision eines Zusammenlebens in radikaler Solidarität

Foto: Tanja SchnitzlerEmilia Roig kämpft an vielen Fronten. Ihr bewegtes Leben prägte ihr Engagement für eine vielfältige Gesellschaft.

Von Kittyhawk

06.07.2020 – Emilia Roig zu treffen, macht Mut. Denn im Gespräch mit ihr geht es ums große Ganze, um die Matrix, in der wir alle leben. Um die Frage, wie wir gemeinsam daraus ausbrechen können – raus aus einer Weltordnung, die 
immer noch von männlicher Vorherrschaft, Rassismus und kapitalistischer Ausbeutung von Mensch und Natur geprägt ist. Die 37-Jährige hat die Arbeit an einer solidarischen und vielfältigen Gesellschaft zu ihrem Lebensthema gemacht. Begleitet wird sie dabei von einem Wort, das erst zunächst sperrig klingt: „Intersektionalität“. Was das heißt? „Ich habe das Gefühl, ich erkläre es jeden Tag“, sagt Roig. „Und es ist jedes Mal eine kleine Herausforderung, denn ich habe keine Definition, die immer passt, sondern reagiere jeweils auf die Person, die fragt. Dennoch 
begeistert mich das Konzept sehr.“

Vielleicht ein Beispiel aus der deutschen Frauenbewegung der 1980er Jahre: Es war Audre Lorde, die damals darauf aufmerksam machte, dass nicht alle gesellschaftlich 
benachteiligten Frauen weiß sind. Dass Schwarze Frauen nicht nur als Frauen 
abgewertet werden, sondern dazu noch 
Rassismus erleben – also gleich mehrfach 
diskriminiert sind und dadurch andere 
Er-fahrungen machen als die Mehrzahl der weißen Feministinnen. So wie Lorde selbst, die sich als „Schwarze Lesbe Feministin 
Mutter Poetin Kriegerin“ bezeichnete.

Wer also Feminismus sagt, sollte sich für die Befreiung aller Frauen einsetzen – nicht nur der weißen oder der bürgerlichen oder derjenigen, die bei Geburt schon den „weiblich“-Stempel bekommen haben. Denn 
Intersektionalität, abgeleitet vom englischen „Intersection“ („Schnittpunkt“, „Schnitt-menge“), heißt, wirklich alle wahrzu-nehmen und einzuschließen, wenn es um den Kampf gegen Diskriminierung und soziale Ungerechtigkeit geht. Alle möglichen Orientierungen, Identitäten, Hautfarben zusammenzudenken, um eine diverse Gemeinschaft möglich zu machen. Klingt eigentlich ganz einfach. Und doch so radikal.

 

Familiengeschichte von Algerien bis zum Holocaust


Ungerechtigkeit und Ungleichheit – diese zwei Mechanismen hat die in der Nähe von Paris aufgewachsene Emilia Zenzile 
Roig schon als Kind extrem wahrgenommen. 
„Meine Mutter kommt aus Martinique, mein Vater ist jüdischer Algerier. Zu Hause gab es starke Hierarchien; Rassismus und Sexismus waren in meiner Familie sehr präsent. Mein Großvater war militanter Le-Pen-Anhänger. Als ich sechs Jahre alt war, nahm er mich ins Hauptquartier der rechtsextremen Front National mit. Dieser Zweig der Familie 
hatte eine sehr koloniale Mentalität, da sie in 
Algerien in der Gesellschaftshierarchie 
höhergestellt waren.“

Dazu muss man wissen, dass es in Algerien ein gutes Miteinander zwischen Juden und Muslimen gab, bis 1830 Frankreich das nordafrikanische Land überfiel. Die Besatzer machten den arabischen Teil der Bevölkerung zur niedrigsten Kaste, die jüdischen 
Algerier erhielten mehr Rechte und die französische Staatsbürgerschaft. Nach dem Ende des Algerienkriegs 1962 flohen viele von 
ihnen nach Frankreich, da sie in Algerien nun als Kolonialistenfreunde galten. So kommt es, dass in Emilia Roigs Familiengeschichte nicht nur das rassistische Kolonialsystem seine Spuren hinterlassen hat, sondern auch der europäische Völkermord. „Ein großer Teil meiner Familie ist im Holocaust ermordet worden. Schon als ich klein war, hat mir mein Vater immer Bücher über den Holocaust in die Hand gedrückt und gesagt: Das ist unsere Geschichte.“


„Ich hatte einen enormen Drang, etwas zu bewegen, mich zu finden und auszuprobieren“, erinnert sich Emilia Roig

Queer ist umfassender, flexibler und inklusiver

Roigs Identität passte von Anfang an in keine enge Schublade. Hinzu kommen die unterschiedlichen Hautfarben-Hierarchien: „Menschen, die wie ich einen Schwarzen und einen weißen Elternteil haben, sind in Deutschland Schwarz. In Frankreich nicht. Dort gibt es einen Unterschied zwischen Schwarz und Métis; und Métis-Leute haben in der Gesellschaft viele Privilegien, manchmal werden sie auch fetischisiert.“ Fehlt noch das Schubfach „sexuelle Identität“. „Es gab Momente in meinem Leben, wo ich mich als lesbisch, bisexuell oder hetero hätte bezeichnen können, aber das negierte jedes Mal einen Teil von mir. Deswegen mag ich queer, denn es ist umfassender, flexibler und inklusiver. Und es zerbricht die binäre Geschlechtsordnung. Für mich passt es sowohl politisch als auch persönlich am besten.“

Als Emilia Roig dann ein treffendes Wort kennenlernte, das ihre vielfältigen Erfahrungen und Identitätsanteile zusammenfasste und deren Verbundenheit zuließ, war das wie eine kleine Erleuchtung. „Intersektionalität hat meine Individualität ermöglicht“, sagt sie. Der 1989 von der US-amerikanischen Juristin Kimberlé Crenshaw geprägte 
Begriff ist für Roig zur Berufung geworden. Doch der Weg dorthin führte zunächst über verschiedene Lebensstationen.

Nach einem Jura- und Staatswissenschaftsstudium in Lyon und 
Berlin begleitete Emilia Roig Projekte für Kinder- und Frauenrechte in 
Ecuador, Tansania, Kenia, Uganda und Kambodscha. So unterschiedlich die Programme auch waren, ob nun bei der UN, bei der riesigen Entwicklungsorganisation Deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (GIZ) oder bei lokalen Nicht-Regierungsorganisationen: Überall zeigten sich ähnliche Abhängigkeiten und Machtverhältnisse zwischen Einheimischen und den meist westlichen Geldgebern sowie bei der Projektleitung – koloniale Hierarchien und Rassismus auch hier. „Ich hatte einen enormen Drang, etwas zu bewegen, mich zu finden und auszuprobieren. Aber meine Toleranzschwelle für Situationen und Jobs, die mich nicht erfüllen, hinter deren politischer Botschaft ich nicht zu 100 Prozent stehe, ist sehr gering. In der sogenannten Entwicklungszusammenarbeit habe ich zwar viel gelernt, trotzdem war der Wunsch, das System von innen zu ändern, zu naiv.“ Emilia Roig ging zurück nach Berlin, wo sie seit 2005 lebt. Sie machte einen Master in 
„Public Policy“, um politische Prozesse noch besser verstehen zu 
können, und schrieb ihre Doktorarbeit. Ende 2014, genau eine Woche vor der Geburt ihres Sohnes Tidiane, schloss sie die Arbeit ab.

„Es geht um Zerstörung – im positiven Sinn“


Doch auch kommende Jobs brachten nicht die Erfüllung. Bis irgendwann der Gedanke wuchs, ein eigenes Projekt zu gründen. Eins, das in Deutschland und Europa Gleichstellung und Antidiskriminierung voranbringt. Eins, das intersektional ist und auf politischer Ebene etwas bewegt. „Ich ging gerade durch eine schwierige Phase in meinem Leben und dachte erst, ich hätte keine Energie für eine solche Vision. Aber sie wurde immer stärker“, sagt Emilia Roig. „Dann habe ich zufällig Kimberlé Crenshaw in Paris getroffen. Obwohl: Ich glaube nicht an Zufälle. Und da habe ich sie spontan gefragt, ob sie Präsidentin einer solchen Organisation werden würde. Sie sagte: ‚Aber sicher, Emilia!‘ Da war mir klar, ich muss es machen.“

Sechs Monate später feierte das Center for Intersectional Justice (CIJ) in Berlin die Eröffnung. Seit 2017 ermöglicht es unter anderem Beratungen und Workshops für Organisationen und Firmen, die gesellschaftliche Veränderungen anstoßen sollen. „Es geht um 
Zerstörung – im positiven Sinn – von Strukturen, die Ungleichheit 
erzeugen. Das ist auf jeden Fall subversiv“, so Roig. Denn wer Intersektionalität ernst nimmt, rüttelt an alten Privilegien und ihren großen
Machtapparaten: Rassismus, Kapitalismus, Patriarchat. Weil die 
bislang Ausgegrenzten plötzlich mitgedacht werden – und die gleichen
Rechte bekommen. Es ist die größtmögliche Vision für eine faire, 
diverse Gesellschaft. Mit diesem Vorhaben ist Emilia Roig ganz bei sich angekommen. Auch wenn ihr Leben nach wie vor turbulent ist: In ihrer Wohnung liegt ein gewaltiger Bücherberg, denn Roig ist Teil der 
Jury vom Deutschen Sachbuchpreis. Sie unterrichtet an einer privaten
Hochschule, schreibt ein Buch und dreht an einer Doku für arte. Doch in Zukunft will sie weniger umherreisen, bei all der aktivistischen 
Arbeit die Spiritualität nicht vergessen.

Und wie behält sie in Zeiten von Rechtsextremismus, Nationalismus und globaler Klimakrise ihre Zuversicht? Werden wir tatsächlich 
eine bessere Welt erleben? „Ich glaube, dass die Veränderung bereits stattfindet“, sagt Emilia Roig und zitiert sinngemäß den Autor 
Deepak Chopra: „Vor jeder großen, guten Entwicklung gibt es Chaos und 
Widerstand. Wir stecken mittendrin.“


Center for Intersectional Justice


Dieser Text erschien zuerst in der Mai/Juni-Ausgabe, hier bestellbar als E-Paper.

 

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