Buchtipp „Girlhood“: Vom revolutionären Potential einer Kuschelparty
Die US-Autorin Melissa Febos seziert in „Girlhood“ die heteronormative Hierarchie sexueller Bedürfnisse und findet vom weiblichen Selbsthass zu lesbischer Selbstliebe.
Erschienen im Heft Nov./ Dez. 2023
Von Sophie Ciseaux
Gleich vorweg: Melissa Febos’ Essayband „Girlhood“ sollte in jeder Debatte um sexuellen Konsens – ob „Kuss im Siegestaumel einer Weltmeisterschaft“ oder „Row Zero“ – bitte sofort zurate gezogen und laut vorgelesen werden! Doch Obacht: Es könnte zur Lösung patriarchaler Knoten führen! Denn nirgends sonst ist auf so sinnlich nahbare und analytisch nachvollziehbare Weise zu erfahren, warum im Grunde „allen heterosexuellen Konventionen eine tendenziell missbräuchliche Dynamik zugrunde liegt“.
Febos tut für diese Erkenntnis und für weiterführende Lösungsansätze nicht weniger als alles: In einem vielschichtigen Texthybrid aus Selbstoffenbarung, Bildungsroman, Feldstudie und wissenschaftlicher Expertise erkundet die amerikanische Autorin, wie sich ihr weibliches und leibliches Ich in jeder Entwicklungsphase mit dem männlichen Blick inspiziert und dadurch blind für die eigenen Bedürfnisse wird.
Es beginnt mit der Erfahrung der Elfjährigen, die in der Schule aufgrund ihrer frühen körperlichen Reife von den Mädchen ausgegrenzt und von den Jungs und Männern auf der Straße plötzlich anders angeschaut wird.In Aufklärungsbüchern findet sie zwar Hinweise auf die Veränderungen des weiblichen Körpers, aber nicht auf die veränderten Reaktionen der Umwelt auf selbigen. Sie erhält anonyme Anrufe einer Schulkameradin, die regelmäßig das Wort „Schlampe“ durch den Hörer speit, und wird kurz vor ihrem zwölften Lebensjahr von einem 25-jährigen Bekannten auf einer Toilette begrapscht.
Die Passivität und körperliche Unterlegenheit ihrer Mädchenjahre versucht sie später in ihrer Arbeit als Domina zu rächen, indem sie andere routiniert unterwirft und auf Distanz hält. Doch in privaten Beziehungen zu Männern hält sie auch ihre eigenen Interessen auf Distanz. Die erste Erfahrung, in der sie sich und ihr Verlangen nicht abkoppelt, macht sie dann mit einem Mädchen, und das bleibt fortan auch so: „War mein Körper zuvor ein passiver Automat gewesen, aus dem Männer etwas herauszogen, wie ein Geldautomat, dann war er jetzt mit ihr (der ersten Freundin, Anm. d. Red.) zu einem Spielautomaten geworden, der zu fröhlich lautem Gedudel Münzen ausspuckte.“
Feinstaub des Patriarchats
Mit diesem queeren Perspektivwechsel nimmt Febos ihre Beziehungen zu Männern und deren Folgen noch einmal neu unter die Lupe. In Bezug auf ihr wortloses Einverständnis (und das vieler, von ihr interviewten Frauen) wählt sie den Begriff der „leeren Zustimmung“. Oft habe sie im sexuellen Kontakt zu Männern vermeintliche Bedürfnisse performt und sexuellen Handlungen nur zugestimmt, um den Mann nicht beschämen oder durch Ablehnung gar verärgern zu müssen: „Um uns zu schützen, müssen wir sie schützen, irgendeinen Weg finden, die Männer nie direkt zurückzuweisen, nie mit der Nase auf ihre eigenen Fehler zu stoßen. Unser Körper ist dabei oft unsere einzige Währung.“
Mit neu eingeführten Bezeichnungen wie der „leeren Zustimmung“ oder dem „Ereignis“ hält sie einen respektvollen Abstand zu überstrapazierten Begriffen wie „Missbrauch“ und „Trauma“, macht aber trotzdem klar: Die Ambivalenzen sexueller Erfahrungen von Frauen mit Männern oder Mädchen mit Jungen sind im Feinstaub des Patriarchats oftmals nur schwer auszumachen und in Worte zu fassen. Gerade deshalb eskalieren öffentliche Debatten zunehmend, weil es für sexuelle Erfahrungen und deren psychologische Auswirkung auf Frauen noch kein passendes Vokabular gibt, das gesellschaftlich und juristisch Gehör findet.
Gehör verschafft sich die Autorin dann in ihren 30ern bei einer Kuschelparty, der sie revolutionäres Potenzial bescheinigt. Hier lernt sie unter seelischen Wachstumsschmerzen, Angebote von Männern abzulehnen oder Zustimmungen im Zweifel auch wieder zurückzunehmen. Der Mann kann im Gegenzug lernen, die einzelne Zurückweisung nicht als übergreifende Kränkung zu werten. Im besten Fall liegt in solch einer Kuschelparty und auch in „Girlhood“ eine therapeutische und gesellschaftsverändernde Kraft. In jedem Fall aber ist die mit zahlreichen Beispielen aus Literatur und Wissenschaft gespickte Essaysammlung von Melissa Febos ein hochkonzentriertes Nahrungsergänzungsmittel zur Debatte und hilft gegen das Völlegefühl des Diskurses – ohne moralische Verurteilung oder ausgehöhlte Formeln.
Melissa Febos: „Girlhood“, Kjona Verlag, 336 Seiten, 26 Euro, als E-Book: 19,99 Euro
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