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„Wir kämpfen um unsere Grundrechte“

Ob in traditioneller Tracht oder mit Spiegelreflexkamera: Die indigene Influencerin Alice Pataxó postet in den sozialen Medien gegen Vorurteile an – und fordert ein Umdenken in Brasilien

Alice Pataxó/privat

Von Paula Lochte

17.7.2021 – Es beginnt im Januar 2020. Brasiliens Präsident Jair Bolsonaro ist da gerade ein Jahr im Amt. Ein Jahr zu viel! So sieht es Alice Pataxó. In ihr hat sich Wut aufgestaut: „Seine rassistischen Bemerkungen, sein Machismo, seine Angriffe auf die Rechte der indigenen Bevölkerung – all das hat mich aufgeregt!“, sagt sie rückblickend. Also öffnet sie den Mikro­blogging-Dienst Twitter und fängt an zu schreiben: „Ich habe aufgeschrieben, was mich aufregt, was ich erlebe und was ich denke“, so Pataxó. „Twitter wurde zu meinem Tagebuch.“

Ein Tagebuch allerdings, in dem mittlerweile über 82.000 Menschen mitlesen. So viele Leute folgen der 19-Jährigen auf Twitter. Auf dem Fotokanal Instagram sind es über 78.000. Längst steht neben ihrem Namen ein blauer Haken, der bestätigt, dass ihr Profil echt und „von öffentlichem Interesse“ ist, wie Twitter es ausdrückt. Sie ist in Brasilien zu einer wichtigen Stimme in den sozialen Medien geworden – zu einer indigenen Influencerin.

„Ich bin in diese Rolle ganz zufällig hineingestolpert“, erzählt Pataxó im Interview mit L-MAG. „Nach einer Weile begannen immer mehr Leute mir zu schreiben und Fragen zu stellen: über indigene Kulturen, Bräuche, unseren Glauben und unsere Mythen.“ Also habe sie Antworten gegeben. Pataxó, der Nachname von Alice, ist gleichzeitig der Name der indigenen Gemeinschaft, aus der sie kommt. Die Pataxó leben mehrheitlich im Bundesstaat Bahia im Osten Brasiliens und arbeiten vor allem im Tourismus und der kleinbäuerlichen Landwirtschaft – aber längst nicht alle: Alice Pataxó studiert Geistes­wissenschaften und ist dafür vom Dorf in die nahegelegene Küstenstadt Porto Seguro gezogen.

Während des Interviews per Videocall sitzt sie im Computerraum ihrer Universität. Ihre Nase ist gepierct. Wie auf vielen der Bilder und Videos, die sie online veröffentlich trägt sie riesige Blumenohrringe aus Federn. Es ist der traditionelle Schmuck der Pataxó.

Manche ihrer Bilder zeigen Alice in Tracht, voller Federn, Perlen und Fransen aus Bast – andere im T-Shirt mit Spiegelreflexkamera in der Hand oder im Bikini am Strand oder Pool. Einerseits sieht ihr Instagramprofil aus wie das vieler anderer Influencer:innen. Es dominieren Productplacements und sexy Posen. Andererseits stecken in ihren Posts politische Botschaften. Schon allein, weil sie mit dem Bild bricht, das sich viele in Brasilien und darüber hinaus von indigenen Gemeinschaften machen: „Natürlich nutzen auch wir modernde Technologien“, stellt Alice Pataxó klar.

Aufklärung gegen Klischees und rassistische Vorurteile

Geduldig beantwortet sie in ihren Twitter-Threads und Insta-Stories auch Fragen wie: Wohnt ihr komplett isoliert? Könnt ihr Portugiesisch? Ist deine Haut nicht zu hell für eine Indigene? Warum sind deine Haare so lockig? Du bist doch bestimmt schon verheiratet, oder? Sie sei immer wieder überrascht, wie wenig die brasilianische Mehrheitsgesellschaft über Indigene wisse, sagt Pataxó. „Ich will zeigen, wie vielfältig unsere Kulturen und Bräuche sind – denn im brasilianischen Schulunterricht kommen wir schlicht nicht vor.“

Ihre Posts wenden sich gegen Klischees und rassistische Vorurteile. Ebenso ist es ihr wichtig, ihre Bisexualität zu thematisieren; ihren Instagram-Steckbrief ziert eine Regenbogenflagge und das Schlagwort „Bi Pride“. Auch das ist ein politisches Statement. Zwar dürfen gleichgeschlechtliche Paare in Brasilien seit einigen Jahren heiraten und Kinder adoptieren, vor drei Jahren stufte Brasiliens oberstes Gericht Homo- und Transphobie als Verbrechen ein. Ein wichtiges Zeichen, denn allein 2019 wurden laut der Initiative Grupo Gay da Bahia 397 LGBTIQ*-Personen ermordet.

Doch zugleich steht mit Präsident Bolsonaro ein Mann an Brasiliens Spitze, der im Wahlkampf mit menschenfeindlichen Sprüchen für sich warb: „Ich bin homophob und stolz darauf.“ Oder: „Ich hätte lieber einen toten als einen schwulen Sohn.“ Alice Pataxó will queeren Jugendlichen Mut machen. Und sie will zeigen: Na klar gibt es auch queere Indigene. Über ihr eigenes Coming-out erzählt sie, es sei unspektakulär gewesen. Ihre Mutter habe gesagt, das habe sie längst gewusst. „Das ist meine Sache, sie akzeptiert das“, meint Pataxó. Bi- und Homosexuellenfeindlichkeit ziehen sich durch die brasilianische Gesellschaft – also auch durch die indigenen Gemeinschaften Brasiliens, denen laut Zensus um die 800.000 Menschen angehören. Andererseits gibt es viele positive Geschichten, so wie die von Alice Pataxó.

Sie gehört zu einer jungen Generation von Indigenen, die in Brasilien gerade immer lauter und sichtbarer werden, politisiert unter dem rechtsradikalen Präsidenten. In eigentlich geschützten indigenen Territorien lässt er Raubbau zu. Das brasilianische Institut für Weltraumforschung hat aus dem All beobachtet, dass binnen eines Jahres 11.000 Quadrat­kilometer Regenwald gerodet wurden. Das ist so viel, als würden ein Jahr lang drei Fußball­felder abgeholtzt werden – pro Minute.

Der Goldrausch lässt Viren grassieren

Ein weiteres Problem: Neben Covid sind in indigenen Gemeinden auch wieder die Masern ausgebrochen. Eingeschleppt von jenen, die dort nach Gold schürfen, Bäume für die Viehzucht fällen oder sich das Land aus anderen Gründen unter den Nagel reißen wollen. Präsident Bolsonaro spricht derweil mit Blick auf Corona von „einer kleinen Grippe“ und blockierte im Juli 2020 ein Gesetz, das die Regierung verpflichtet hätte, Indigenen Zugang zu Trinkwasser, Desinfektionsmitteln und ärztlicher Versorgung inklusive künstlicher Beatmung und Intensivbetten zu garantieren.

Ihre Interessenverbände hatten kurz zuvor darauf hingewiesen, dass die Sterblichkeit in dieser Gruppe fast doppelt so hoch ist wie im Rest der Bevölkerung. Zugleich ist ganz Brasilien gebeutelt von der Pandemie und einer neuen, ansteckenderen Variante des Corona­virus. Im Januar war aus der Amazonas-Stadt Manaus zu hören, dass Corona-Patienten erstickten, weil in den Krankenhäusern der Sauerstoff knapp geworden war.

Auf der anderen Seite regt sich Widerstand. Gerade junge Leute, die sich vorher nicht für Politik interessiert haben, wurden durch Bolsonaro politisiert. Sie engagieren sich und setzen dabei nicht nur auf Parteien und Nichtregierungsorganisationen – sondern wie Alice Pataxó auch auf soziale Medien. Pataxó gibt ihr technisches Knowhow an andere junge Indigene weiter und macht ihnen Mut: Die Hemmschwelle sei erst mal hoch und die Internetverbindung auf dem Land oft so richtig schlecht. Aber schließlich gehe es ums Ganze, sagt sie: „Wir kämpfen um unsere Territorien, unsere Grundrechte, unsere Menschenrechte. Deshalb machen wir weiter.“

Dieser Text erschien zuerst in der Print-Ausgabe von L-MAG Juli/August 2021.

 

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