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St. Vincent: Femme fatale auf Rachefeldzug

Mit jedem Album entwirft St. Vincent – alias Annie Clark – einen neuen Sound und einen anderen Look. Bislang hielt die queere Musikerin ihr Privatleben unter Verschluss, doch mit ihrem neusten Werk holt sie zum Gegenschlag aus

Foto: Zackery Michael

Von Marcel Anders

18.6.2021 – Sie wirkt, als wäre sie einem alten Fellini-Film entsprungen: Eine spindeldürre Dame mit schwarzer Sonnenbrille, schwarzem Bubikopf, rotem Haarband und knallroten Lippen.

Eine 38-Jährige, die ihrem Ruf als Stilikone sogar in den eigenen vier Wänden gerecht wird. Doch hinter der mondänen Fassade steckt immer noch Annie Erin Clark aus Tulsa, Oklahoma, die bereits seit den frühen 2000ern künstlerisch aktiv ist, doch erst vor ungefähr sieben Jahren ihre Nische und Identität fand: Als queeres Chamäleon, das sich permanent neu erfindet und immer perfekt inszeniert, ist sie zum Hipster-Darling avanciert, von Musik- wie Modewelt gleichermaßen hofiert.

Für Annie ist das ein großes Spiel – mit einer Art Rüstung, die sie schön, stark und unnahbar macht: „Ich bin der Meinung, dass einem Klamotten eine Menge Energie verleihen“, setzt sie an. „Eine enge Hose gibt deinem Auftreten zum Beispiel gleich viel mehr Pep als eine Jogginghose – mit der ja gerade alle zu Hauserumsitzen. Noch ein Grund, sich da abzusetzen und dem entgegenzuwirken“, sagt sie und zeigt, dass sie mehr als nur Entertainment im Blick hat.

So auch mit ihrem neuen, sechsten Album „Daddy’s Home“, das die Entlassung ihres Vaters aus einem texanischen Bundesgefängnis thematisiert. Dieser musste neun Jahre Haft wegen Steuerhinterziehung verbüßen, die Annie selbst als „unangemessen“ empfindet. Ihren Dad stellt sie als Opfer krimineller Klienten dar. Als mitfühlende Tochter habe sie ihn regelmäßig besucht und die Kehrseiten der US-Justiz kennengelernt: Sie sei vom Wachpersonal schikaniert worden, das ihr wegen „zu körperbetonter Bekleidung“ mehrfach den Zutritt verweigerte. Ihre Buchsendungen, die Titel der Weltliteratur enthielten, wurden konfisziert und durch Bibeln ersetzt, gleichzeitig musste sie im Besuchsraum Autogramme geben. „Es war absolut bizarr“, erinnert sie sich. 

Impressionen, die sie in bitterböse Songs kleidet, die vor Sarkasmus und Systemkritik triefen, und die sie mit weiteren – wie sie es formuliert – Geschichten kombiniert, die sie selbst als lebenshungrige Femme fatale zeigen: Sie macht die Nacht zum Tag, ständig auf der Suche nach sexuellen Eroberungen. „Ich war nahezu jeder Charakter, der auf dem Album vertreten ist. Ich habe all das selbst erlebt. Und ich will dasselbe wie alle: Geliebt werden und ein Dach über dem Kopf.“
Eine verblüffende Offenheit.

Bislang hat St. Vincent ihr Privatleben komplett unter Verschluss gehalten und in Interviews Fragen dazu konsequent abgelehnt. Und das aus einem einfachen Grund: „Was hat das mit meiner Musik zu tun? Ich schreibe keine Songs für eine bestimmte Zielgruppe. Ich will nicht nur die LGBT-Community erreichen, sondern möglichst viele Leute. Deshalb spreche ich nicht über explizit queere Themen, sondern bin sehr allgemeingültig. Was nicht bedeutet, dass ich mich verstecke oder schäme – es ist nur nicht der Dreh- und Angelpunkt meiner Kunst. Aber: Ich stehe dazu.“

Unerwartete Einblicke in ihr Allerheiligstes

Und: Sie ist ein gebranntes Kind. Ihre Beziehungen zu Model Cara Delevingne und Schauspielerin Kristen Stewart bescherten ihr zwischen 2014 und 2016 mehr Aufmerksamkeit als ihr lieb war, denn gleichzeitig wurde dadurch die Inhaftierung ihres Vaters publik. Seitdem ist sie noch verschlossener: „Ich hatte das Gefühl, dass ich gegen meinen Willen ins Rampenlicht gezerrt und an den Pranger gestellt wurde. Nach dem Motto: ,Schaut euch die Lesbe an. Schaut, was sie da Unnatürliches tut.‘ Das hat mich in eine Ecke gedrängt und zur Zielscheibe gemacht. Dabei habe ich keine Ambitionen, als Vorkämpferin aufzutreten. Dafür fehlt mir die Energie, denn die steckt in meiner Musik. Und wer genauer hinhört, merkt, woher ich komme. Nur: Ich will das niemandem um die Ohren hauen. Das ist nicht mein Stil.“

Ihr aktueller Umgang damit hat etwas von einem clever inszenierten Rachefeldzug: Mit „Daddy’s Home“ gewährt Annie unerwartete Einblicke in ihr Allerheiligstes: ihr Privatleben. Allerdings nur in den Teil, der sowieso bereits bekannt ist, aber den sie nun aus ihrer eigenen Sicht erzählt. Musikalisch kommt das Ganze in einem charmanten 70er-Pop voller Gitarren, Geigen, knackigem Funk und schwelgerischen Melodien daher. Die visuelle Inszenierung ist im Dirty Glamour-Look in der Manier von John Cassavetes-Filmen gehalten, gepaart mit der Erscheinung von Warhol-Muse Candy Darling: blonde Perücke, luftiges Kleidchen, dicke Mascara, zerrissene Strümpfe, Trenchcoat.

Beides – Klang und Outfit – verschleiern das eigentlich Wichtige an den 14 Stücken: Ihre Raubzüge auf der Suche nach Liebe und Sex, die sie in „Somebody Like Me“, „My Baby Wants a Baby“, „At the Holiday Party“ oder „Candy Darling“ gesteht. Zum Teil verbergen sie sich hinter richtigen Ohrwürmern – geradezu trojanische Pferde der Popmusik!

Denn die jubelt Annie einer sensationslüsternen, wütenden, homophoben Gesellschaft einfach unter – um sie zu infiltrieren: „Es ist ein wunderbarer Gedanke, dass ich Menschen, die nicht so offen sind, an dieser Stelle etwas mitgebe, ohne dass sie es merken. Das normalisiert eine Sache, die in meinen Augen nichts Ungewöhnliches ist, und an die man die breite Masse allein dadurch gewöhnt, indem man es als alltäglich verkauft – etwas, das keiner Rechtfertigung bedarf. Queer zu sein ist nichts Außergewöhnliches und erst recht nichts Bedrohliches, vor dem man andere beschützen muss.“ Damit ist „Daddy’s Home“ auch ein musikalischer Mittelfinger in Richtung Massenmedien, Rechtspopulisten, selbst ernannten Moralaposteln und Kirchenklerus. Die Femme fatale hat wieder zugeschlagen.

Dieser Text erschien zuerst in der Print-Ausgabe von L-MAG Juli/August 2021.

 

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