Was bleibt von Marielle Franco?
Im März 2018 wurde die brasilianische Stadträtin Marielle Franco auf offener Straße ermordet. Für Feministinnen vor Ort ist sie längst ein Symbol für den Widerstand geworden. Die L-MAG-Reportage aus Brasilien
Von Gudrun Fischer
28.9.2019 – Es ist neun Uhr abends und sie will nach Hause. Marielle Franco, eine feministische Stadtabgeordnete von Rio de Janeiro, hat mit anderen im „Haus der Schwarzen Frauen“ diskutiert. Es ist der 14. März 2018, überall in der brasilianischen Metropole finden Veranstaltungen zum internationalen Frauentag statt. Als ihr Chauffeur startet, werden sie unbemerkt von einem weißen Auto verfolgt. Nach einigen Kilometern drängt sich das
Auto neben sie. Der Schütze erschießt Marielle Franco und ihren Fahrer Anderson Pedro Gomes mit mehreren Schüssen, ihre Assistentin kommt mit dem Leben davon. Das Auto verschwindet in der Nacht.
Fast ein Jahr lang ermittelt die brasilianische Polizei – ohne Ergebnis. Erst im März 2019 werden zwei Männer verhaftet, der vermutliche Fahrer und der mögliche Schütze. Beide haben früher als Militärpolizisten gearbeitet. Nach den Verhaftungen wird bekannt, dass der verdächtigte Schütze im selben Luxuswohnkomplex wie der brasilianische Präsident Jair Bolsonaro wohnt. Eine Zeitung publiziert sogar ein Foto, auf dem er neben dem Staatschef steht. Parallel zu den Verhaftungen hebt die Polizei bei einem Freund der Verdächtigen ein geheimes Waffenlager mit 120 Schnellfeuerwaffen aus. Es entsteht der Verdacht, dass die mutmaßlichen Täter zu illegalen Milizen in der zweitgrößten Stadt Brasiliens gehören. Der Schütze hatte Marielle Franco monatelang beobachtet. Viele weitere engagierte Frauen und Männer standen auf seinen Listen – einige haben Brasilien inzwischen verlassen.
Draußen ist es brütend heiß. Im majestätischen und gut gekühlten Landesparlament von Rio de Janeiro findet gerade eine Ehrung von engagierten Frauen statt. Zwischen Stimmengewirr und Applaus überreicht Rejane de Almeida, die einzige kommunistische Abgeordnete im Landesparlament von Rio de Janeiro, Blumen. Rejane ist Krankenpflegerin, Schwarz und lesbisch. Mit den zwei Verhaftungen im Mordfall Marielle will sie sich nicht abspeisen lassen – für sie stecken andere hinter dem Mord. „Auftragsmorde“, erzählt sie L-MAG, „sind unheimlich bedrohlich für alle, die für Gerechtigkeit kämpfen, so wie wir. Es ist eine Schande für unser Land, unsere Justiz und unsere Polizei, dass ein Mordfall dieser Dimension noch nicht aufgeklärt ist!“
Marielle Francisco da Silva gehörte der Partido Socialismo e Liberdade (Partei für Sozialismus und Freiheit, PSOL) an. Sie war nicht nur Abgeordnete, sondern auch Präsidentin des Frauenausschusses im Stadt-parlament von Rio de Janeiro. Sie wurde 38 Jahre alt und hinterlässt eine 19-jährige Tochter, Luyara, und ihre langjährige Lebensgefährtin Mônica Benício. Die Politikerin engagierte sich besonders gegen die Gewalt illegaler Milizen in den ärmeren Vierteln von Rio de Janeiro. Sie selbst stammt aus einer „Favela“, wie ärmere Viertel in der Sechs-Millionen-Metropole genannt werden. Aus ihrem Stadtteil „Maré“ kommt auch ihre Lebensgefährtin.
Eine Liebesgeschichte ohne Happy End
„Ich wollte nie eine Aktivistin sein. Dazu bin ich viel zu schüchtern“,
erklärt Mônica Benício in einem Interview der brasilianischen Presse. „In den ersten Monaten nach dem Mord wurde ich von allem abgeschirmt.“ Dann aber erhielt sie zahlreiche Einla-dungen. „Früher besaß ich nicht einmal einen Pass und jetzt trete ich in vielen Ländern Europas und Südamerikas auf. Überall gedenken die Leute Marielle. In einem Armenviertel in Buenos Aires habe ich zum Beispiel ein Graffiti von ihr entdeckt.“ Auch in Paris hängt jetzt ein großes Foto von der ermordeten Brasilianerin am Eingang des Rathauses, freut sich Mônica. Der Stadtrat beschloss sogar, dass bald ein neuer Park in der französischen Stadt den Namen von Marielle tragen wird.
Mônica Benício sagt heute offen, dass sie lesbisch ist und erzählte der brasilianischen Ausgabe der Zeitung El País im August 2018, wie ihre Liebesgeschichte begann: 2004 traf sie mit nur 18 Jahren die 24-jährige Marielle. „Schon bald übernachtete ich sechs Nächte die Woche bei ihr,“ erinnert sich Mônica. Marielle überredete sie, wieder aktiv bei der katholischen Jugend mitzumachen. Nach einem Jahr kam es schließlich zum ersten Kuss. „Das erstaunte uns beide“, blickt sie im Interview zurück. Zunächst verheimlichten sie ihre Beziehung aus Angst vor den Reaktionen. „Dann sagten wir es unseren Familien, und es kam zu den erwarteten Problemen.“ In den ersten Jahren probierten beide auch Beziehungen zu Männern und anderen Frauen aus. Doch sie entschieden sich immer wieder füreinander.
„Als Marielles Tochter Luyara etwas älter war, beschlossen wir, ganz zu-einander zu stehen und wirklich als Paar aufzutreten.“ Dann wurde Marielle Franco 2016 mit unerwartet vielen Stimmen Stadtabgeordnete. „Fortan war sie ständig unterwegs, sie war Aktivistin,“ erinnert sich Mônica, „aber wir lebten weiter eine ganz normale Beziehung.“ Heute wird die Hinterbliebene in der brasilianischen Presse die „Witwe von Marielle“ genannt, auch wenn die beiden erst 2019 heiraten wollten. In Brasilien wurde bereits 2011 die Ehe für alle geöffnet und anders als in Deutschland dürfen Lesben und Schwule seitdem auch gemeinsam Kinder adoptieren.
Andere Aktivistinnen kämpfen weiter
„Was nicht heißt, dass sie nicht diskriminiert und verfolgt werden“, gibt die Aktivistin Marcia Nobua gegenüber L-MAG zu bedenken. Sie ist 52 Jahre, war früher mit einem gewalttätigen Mann verheiratet und hat es letztlich geschafft, sich von ihm zu trennen. Sie sitzt nervös in einem Café im Zentrum von Rio de Janeiro und erzählt von ihrer neuen Freundin, die gerade zu ihr
gezogen ist. Nun lebt sie mit ihren eigenen Kindern, Enkeln und dem Kind ihrer Lebensgefährtin in einem großen Haus zusammen. Zu ihrer Herkunftsfamilie hat sie keinen Kontakt, weil die ihr Lesbischsein nicht
akzeptieren. Marcia findet jedoch: „Ich habe jetzt meine eigene Familie.“
Sie engagiert sich in elf Frauen- und Lesben-organisationen. Denn für Marcia ist klar: „Ich will nicht unsichtbar bleiben.“
Ihr Geld verdient sie als Verwaltungsangestellte im Menschenrechtszentrum des Programms „Rio ohne Homophobie“ in Duque de Caxias, einer Großstadt in der Nähe von Rio. „Die Mordrate an Lesben, Schwulen, inter- und trans Personen, die in Brasilien schon immer hoch war, stieg in den letzten Jahren noch einmal,“ beurteilt sie die Situation in ihrem Land. „Manchmal lehnen die Familien Unterstützung ab – manchmal aber auch nicht. Wir hatten den Fall, dass ein schwuler Mann ermordet aufgefunden wurde. Seine Mutter kam in unsere psychologische Beratung. Sie meinte, dadurch habe sie Trost gefunden. Wir begleiteten sie bis zum Gerichtsprozess.“ Für Marcia ist klar, dass es vor allem die extrem LGBT-feindlichen Äußerungen des neuen Präsidenten sind, die eine hasserfüllte Stimmung erzeugen.
Wer regiert Brasilien?
Der 2018 gewählte Jair Bolsonaro ist ein Ex-Militär und inszeniert sich bei öffentlichen Auftritten oft so, als würde er ein Maschinengewehr halten. Vor ein paar Jahren wurde er wegen sexistischer und rassistischer Äußerungen zu Geldstrafen verurteilt. Trotzdem bekam er im Oktober 2018 im zweiten Wahlgang der Präsidentschaftswahl 55 Prozent der Stimmen. Viele Menschen in dem südamerikanischen Land sehen in ihm einen „Retter“, denn er propagiert die „echte“ Familie. Er lebt mit seiner dritten Ehefrau zusammen, in deren evangelikale Gemeinde er eintrat. Während einer Veranstaltung im brasilianisch-jüdischen Club Hebraica in São Paulo verkündete er 2017, dass er bei seinem fünften Kind – eine Tochter – „geschwächelt“ hätte.
Der Zeitschrift Playboy erklärte Bolsonaro 2011 in einem Interview, dass er nicht in der Lage wäre, einen schwulen Sohn zu lieben. Lieber wäre ihm, einer seiner Söhne würde bei einem Unfall sterben, als dass er mit einem Schwulen gesehen werde. Und auch in einer Sendung des brasilianischen TV-Senders „Bandeirantes“, im selben Jahr, zeigte er sein homofeindliches Gesicht. Auf die Bevölkerungsfrage, wie es für ihn wäre, wenn einer seiner Söhne schwul wäre, antwortete er, sie hätten eine „gute Erziehung“ genossen, er sähe dieses „Risiko“ nicht. Und auch die Nachfrage nach einer Teilnahme an einem CSD, verneinte er deutlich, „denn ich fördere keine schlechten Sitten, ich glaube an Gott und
habe eine Familie.“ Daraufhin strengten mehrere Nichtregierungsorganisationen ein Verfahren wegen rassistisch und homophober Äußerungen an. Er bekam eine Strafe von 150.000 Real (brasilianische Währung, umgerechnet 35.000 Euro, Anm. d. Red.) aufgebrummt. Im Mai 2019 wurde die Verurteilung auch in zweiter Instanz bestätigt. Außerdem wurde er bereits wegen frauenfeindlicher Aussagen zu einer Geldstrafe verurteilt.
Zurück zur majestätischen Abgeordnetenkammer von Rio de Janeiro. „Vor acht Jahren war ich noch die einzige Abgeordnete, die sich selbst ‚Schwarze‘ nannte“, erinnert sich die kommunistische Abgeordnete Rejane. „Nun haben wir hier drei weitere Frauen, die sich Schwarze nennen. Alle drei arbeiteten mit Marielle zusammen.“ Nach ihrer Ermordung sind für sie viele Frauen in Brasilien mutiger geworden: „Wir haben mehr Energie als vorher, um zu kämpfen. Das verdanken wir Marielle.“
In den letzten Monaten gingen in Brasilien hunderttausende Menschen gegen eine geplante Rentenreform, gegen angestrebte Kürzungen im Bildungsbereich, gegen die zunehmende Gewalt an Frauen und für die Rechte von LGBT auf die Straße. Auf vielen dieser Demonstrationen erklingt immer wieder die Parole „Marielle lebt! Jetzt und für immer.“
Amnesty International fordert mit einer Online-Aktion„Gerechtigkeit für Marielle Franco”. Schicke eine E-Mail an den Gouverneur des Bundesstaates Rio de Janeiro, Wilson Witzel, sowie an den Generalstaatsanwalt des Bundesstaates Rio de Janeiro, Eduardo Gussem.
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