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Ahnenforschung: Queere Biografien im Familienstammbaum sichtbar machen

Die unverheiratete Tante, der nie erwähnte Onkel: LGBTQ-Verwandte sind in der eigenen Familiengeschichte oft unsichtbar. Ahnenforscher:in Dr. Yeshi Rösch hat es sich zur Aufgabe gemacht, Stammbäume mit queerem Blick anzuschauen.

Alfred Strecker Yeshi Rösch

Von Paula Balov

10.11.2021 - „Unbekannte Schwule und Lesben aus dem Keller des Familienschweigens holen“ lautet Dr. Yeshi Röschs Devise. Rösch ist promovierte:r Geschichts- und Kulturwissenschaftler:in, arbeitete an den Unis Potsdam und Leipzig sowie am Jüdischen Museum. In diesem Sommer realisierte sich Rösch einen lang gehegten Traum und machte sich als freiberufliche:r Ahnenforscher:in selbstständig. Ein Fokus dabei: die Sichtbarmachung queerer Biografien in Familienstammbäumen. Wir fragten nach, wie eine solch komplexe Aufgabe gelingen kann

 

L-MAG: Dr. Yeshi Rösch, wie sind Sie auf die Idee gekommen ein Unternehmen für Ahnenforschung zu gründen und dabei das Augenmerk auf queere Biografien zu legen?

Yeshi Rösch: Ich habe als Kind schon Stammbäume gezeichnet und meine Großmutter zu ihren Geschwistern interviewt. Familien haben mich immer schon fasziniert. Ich habe lange in der Erbenermittlung gearbeitet. Da hat man viel mit Verwaltung und Nachlass zu tun. Dort habe ich dann gemerkt: Mich interessiert viel mehr der menschliche Teil. Wer spielt in der Familiengeschichte eine Rolle? Wer wird genannt und wer nicht? Nachdem ich in vielen verschiedenen Arbeitsfeldern tätig war, habe ich mir nun mit der Ahnenforschung meinen Traum verwirklicht und bin seit Juni selbstständig.

Wie heteronormativ ist die Familien- und Ahnenforschung?

Das kann ich schwer beurteilen. Ich bin noch neu in dem Feld und noch wenig mit anderen Ahnenforscher*innen vernetzt. Ich denke aber, das hängt von der jeweiligen Person ab. Mein Vater hat zum Beispiel auch privat Ahnenforschung betrieben. Er hat ein Buch publiziert, in dem er Fotos von Familienmitgliedern gezeigt hat und daneben immer ein Foto von ihrer Hochzeit. Von mir hatte er kein Foto der Hochzeit genommen, weil ich mit einer Frau verheiratet war. Bei meinem Neffen, der das Downsyndrom hat, gibt es auch kein Hochzeitsfoto. Da ist mir klar geworden, was für eine starke Normierung da passiert.

Welches Ziel verfolgen Sie mit Ihrem Ansatz?

Ich weiß, dass ein gewisser Prozentsatz der Bevölkerung schwul, lesbisch, trans oder inter gewesen sein muss, über den das nicht bekannt ist. Ich möchte mich in die Furcht, den Kummer und die Isolation dieser Menschen hineindenken und ihnen ihre Würde zurückgeben. Das ist meine Vision, weil ich aus eigener Erfahrung weiß, wie es ist, versteckt zu leben und die eigene Liebe nicht zeigen zu dürfen. Mit meinem Ansatz möchte ich in erster Linie einen Denkraum öffnen. Wenn ich mir zum Beispiel Stammbäume anschaue, finde ich dort immer wieder unverheiratete Personen. In früheren Jahrhunderten war ja Heirat stark an Geld gekoppelt. Da stellen sich mir ganz viele Fragen: War Tante Erna wirklich so alleinstehend? Hat Onkel Max wirklich nur keine Frau gefunden? Es ist aber sehr schwierig, Hinweise zu finden, die tatsächlich auf eine schwule oder lesbische Orientierung hindeuten. Vor Stonewall und wegen des Paragrafen 175 war es ja sehr schwierig, sich zu outen. Wegen der Kriminalisierung männlicher Homosexualität musste man im Verborgenen bleiben. Auch Lesben wurden stark diskriminiert, geächtet und unsichtbar gemacht. Wie soll man also etwas, das versteckt wird, vor der Umwelt und vor der Familie, recherchieren? Es ist fast ein Ding der Unmöglichkeit.

Wenn es fast unmöglich ist, wie gehen Sie dann bei Ihrer Forschung vor?

Ich kombiniere unterschiedliche Methoden. Ich schaue mir den Lebenslauf von jemandem an und versuche, so viele Dokumente über die Person wie nur möglich zusammenzubekommen, vor allem private. Es ist ein seltener Glücksfall, wenn man Briefe, Postkarten oder gar Tagebücher von jemandem findet. Manchmal gibt es noch Zeitzeug*innen, die man interviewen kann. Hier ist aber viel Fingerspitzengefühl gefragt, weil es natürlich passiert, dass Familien den Ruf der Person, in ihrem Sinne, schützen wollen. Ein Ansatzpunkt kann auch ein privates Postfach sein, weil die Verteilung der Post im Familienhaus viel zu offenkundig war. Man kann sich anschauen, welche Bücher und Zeitschriften jemand gelesen hat, oder auch, welchen Beruf jemand ausgeübt hat. Lehrerinnen durften zum Beispiel von 1880 bis 1919, also bis zur Weimarer Gesetzgebung, nicht heiraten. Was für die einen sicher schmerzlich gewesen ist, war für die anderen vielleicht ein wunderbarer Schutz. Interessant ist auch, wenn Frauen stolz darauf waren, ein „Fräulein“ zu sein – obwohl oder gerade weil ein „Fräulein“ erst durch Heirat mit einem Mann zur Frau wird. Aber ich hatte selbst noch eine lesbische Bekannte, die sich stolz „Fräulein“ genannt hat. Man muss zwischen den Zeilen lesen können und braucht sehr viel Fantasie und Empathie. Es hilft zu wissen: Wie ist das, im Verborgenen zu leben? Welche Verheimlichungstaktiken sind typisch? Letztlich ist es Detektivarbeit. Ich blättere Sterbeurkunden oder Kirchenbucheinträge durch. Wenn ich dort von Selbsttötung lese, werde ich hellhörig. Ich muss da vorsichtig sein und darf nichts hineininterpretieren. Trotzdem ist das ein Anhaltspunkt, weil auch heute noch die Suizidrate bei queeren Menschen viel höher ist als in der Mehrheitsgesellschaft.

Wie recherchieren Sie trans* Biografien? Ist die Quellenlage bei einer so vulnerablen queeren Minderheit nicht noch dünner?

Ja, es ist natürlich bei trans Personen besonders schwierig. Vor 1981, also vor dem Transsexuellengesetz in der Bundesrepublik, war es nicht möglich, überhaupt den Geschlechtseintrag im Pass zu ändern. Das heißt also, eine trans Frau galt als Mann. Aber auch hier kann man zum Beispiel recherchieren, ob es Haftstrafen gab: Wenn eine trans Frau mit einem Mann eine Beziehung einging, galt das als homosexuelle Handlung. Eine Frage kann auch sein: Ist jemand nach Berlin gezogen? Im Berlin der etwas glorifizierten 1920er-Jahre gab es schon eher eine Möglichkeit, queere Identitäten auszuleben, als in anderen Städten. Da sind Chancen größer, weil es bestimmte Zirkel gab, in denen sich die Leute outen und ihr Privatleben sogar feiern konnten.

Was für Lebensgeschichten haben Sie bei Ihrer Suche gefunden?

Ich mache ja in erster Linie Familienforschung und Personenrecherche. Zu mir kommen Menschen, wenn sie zum Beispiel Informationen über ein Familienmitglied suchen. Es ist also eine sehr private Sache. Im Vertrag, den ich gemeinsam mit meinen Kund*innen unterschreibe, ist festgeschrieben, dass ich Stillschweigen wahre. Ich kann aber von meiner eigenen Familie erzählen: Ich bin gerade meinem Großonkel Toni auf der Spur. Der hat nie geheiratet und ist 1930, als er gerade 21 Jahre alt war, von München nach Kanada ausgewandert. Wenn ich in der Familie nachgefragt habe, warum, hieß es immer: „Wegen der Nazis.“ Eigentlich war er 1930 damit ziemlich früh dran, zumal er den Schritt schon lange vorher geplant haben muss. Als ich meinen Freundinnen Fotos von ihm gezeigt habe, meinten sie direkt: „Der ist doch schwul!“ Alleine wäre ich gar nicht auf die Idee gekommen. In meiner Familie sorgte allein der Gedanke für großes Entsetzen. Gerade recherchiere ich, wie er in Kanada gelebt hat und ob sich darüber mehr herausfinden lässt.

Wäre es nicht auch im Sinne der Erinnerungskultur und Aufarbeitung gut, wenn die Funde queerer Ahnenforschung nicht nur im Privaten blieben?

Es ist noch nicht vorgekommen, dass eine*r meiner Kund*innen gesagt hat: Das möchte ich gern öffentlich machen. Ich würde es aber sehr begrüßen, wenn mehr und mehr marginalisierte Biografien aus ihrem Schattendasein herausgeholt würden. Eigentlich ist der Akt, die Queerness einer Person nach ihrem Tod zu verschweigen, auch eine Form, sie posthum weiter zu diskriminieren.

Mehr Informationen auf www.ahnenforschung-stammbaum.de

Berlin, Sonntagsclub, Di, 16. Nov., 19 Uhr: Input und Gespräch: Heteronormative Tabus in der Familiengeschichte

 

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