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Anneli Furmark: „Geschichten über queere Beziehungen im Alter interessieren mich“

In ihrer Graphic Novel „Bring mich noch zur Ecke“ erzählt Anneli Furmark von der verheirateten Elise, die sich mit Mitte 50 in Dagmar verliebt. Wir sprachen mit der bisexuellen Schwedin über ihr Buch, verwirrende Gefühle und Frauen in der Comic-Branche.

Andreas Nilsson

Von Simone Veenstra

22.5.2022 - Sich zu verlieben – manchmal kommt es als Schock, manchmal ganz leise und langsam. In der Graphic Novel „Bring mich noch zur Ecke“ der schwedischen Künstlerin Anneli Furmark ist es beides und noch mehr: Verwirrung, unerwartete Sehnsucht und der Einbruch überraschend heftiger Gefühle, die eine langjährige Ehe in Frage stellt.

Elise und ihr Mann Henrik, beide über fünfzig, haben sich wohlig miteinander eingerichtet, die Kinder sind aus dem Haus, ihr gemeinsames Leben ist seitdem gelassener geworden. Dann aber lernt Elise auf einer Kunstausstellung Dagmar kennen - und plötzlich ist alles wieder neu und ebenso aufregend wie in Teeniejahren, denn das Frisch-Verliebtsein kennt kein Alter.

Frisch-Verliebtsein kennt kein Alter - aber Verantwortung

Das Alter aber weiß um Verantwortung, und so versuchen Elise und Henrik mit der veränderten Lebenssituation möglichst ehrlich und gerecht umzugehen. Was zunächst wunderbar verblüffend unaufgeregt scheint, scheitert jedoch an unterschiedlichen Erwartungen, Befindlichkeiten und Möglichkeiten – und beinhaltet trotzdem ein Happy-End im Kleinen. Geradezu zärtlich erzählt „Bring mich noch zur Ecke“ von Hoffnungen und Enttäuschungen und wozu sie führen können – egal in welchem Alter.

L-MAG hat sich mit der bisexuellen Autorin, Illustratorin und Malerin über ihre Herkunft und ihr Werk unterhalten, aber auch darüber, was es bedeuten kann, sich als verheiratete Frau von 50 plötzlich in eine andere Frau zu verlieben.

 

L-MAG: Anneli, wie würdest du dich in drei Worten beschreiben, wie kamst du zum Comicschreiben und -zeichnen?

Anneli Furmark: Ganz kurz würde ich sagen, ich bin groß gewachsen, immer etwas besorgt, aber auch lustig. Schon als Kind wollte ich Künstlerin werden und habe mit dem Zeichnen angefangen. Ich habe an der Kunstakademie Umeå studiert und erst danach begonnen, mich für Comics zu interessieren. Damals malte und fotografierte ich vor allem. Inzwischen sind mehr als zehn Graphic Novels von mir erschienen, etliche sind auf Deutsch und Französisch übersetzt. Das ist inzwischen so etwas wie meine hauptsächliche Kunstform, auch wenn ich daneben male oder illustriere.

Was interessiert dich am Medium Comic?

An der Kunsthochschule ging es ununterbrochen um den Unterschied zwischen Kunst und Graphik – ersteres wird höher angesehen als letzteres. Bei Comics muss ich mich nicht entscheiden. Ich kann ernsthaft sein und unterhalten, Text und Bild gehören zusammen. Es ist mir wichtig, keine strengen Grenzen zwischen Malerei, Zeichnung, Comic und Text zu ziehen.

Die neunte Kunst, wie Comics auch genannt werden, ist nicht unbedingt frauenfreundlich – ich denke da an den Eklat beim Comicfestival Angoulême 2016, als nur Männer für den großen Preis nominiert waren. Wie war deine Haltung bzw. ist deine Meinung dazu?

Vor 20 Jahren wurde mir oft die Frage gestellt, wie es ist, so als Frau in der Comic-Kunst unterwegs zu sein, inzwischen hat das nachgelassen. Es gibt eine Menge Frauen in der Schwedischen Comicszene, ich würde sagen, wir machen mehr als 50 % aus. Also ist das bei uns kein Thema mehr. Die Nominierungs-Listen des Festivals in Angoulême aber haben mir Jahr für Jahr die Luft abgeschnürt. Ich konnte nicht fassen, dass da nur Männer zu finden sind und dann noch behauptet wird: „Wir haben nur nach Qualität und nicht nach Geschlecht ausgewählt.“ Das ist einfach unglaubwürdig! Das habe ich ihnen auch geschrieben. Dieses Jahr – 2022 – ändert sich endlich etwas.

Dabei gibt es unglaublich viele Frauen in der Comic-Kunst, nicht erst seit Neuestem. Etliche davon wechseln bzw. wechselten – wie du – immer wieder zwischen unterschiedlichen Kunstmedien hin und her. Beispielsweise denke ich da an Tove Jansson (finnlandschwedische, queere Künstlerin, die die Trollfiguren „Mumins“ schuf; der Spielfilm „Tove“ porträtiert sie – unsere Filmkritik, Anm. d. Red.).

Tove Jansson ist eine meiner Heldinnen. Auch wenn ich sie nie persönlich kennenlernen durfte. Ihre Arbeiten haben mich schon als Kind inspiriert und tun es bis heute. Für mich entsteht alles aus der Lust, etwas Spezielles auszudrücken. Erst dann suche ich jene Kunstform, die am besten zum Thema passt. Alles ist miteinander verbunden. So gibt es in Schweden auch eine starke Bilderbuch-Tradition. Meine Eltern sorgten immer dafür, dass meine Geschwister und ich viele und unterschiedliche davon zu Hause hatten. Später habe ich die lokale Bibliothek entdeckt und noch etwas später, in meinen 20ern, alternative Comics. Die liebte ich auch sehr.

Du erzählst von unterschiedlichen Kunstarten für unterschiedliche Geschichten. Für „Bring mich noch zur Ecke“ war das für dich eine Graphic Novel. Was inspirierte dich dazu?

Während einer recht schwierigen Zeit ließ ich eine Freundin mein Skizzenbuch sehen und sie fand, dies könne der Anfang eines Buches sein.

Avant Verlag

Wie viel von dir steckt in der Geschichte oder den Personen?

Schwierig zu sagen. Je mehr Zeit vergeht, desto mehr vergesse ich, was meine eigenen Erfahrungen waren und welche beispielsweise zu Elise oder Dagmar gehören. In dem Moment, in dem ich begann, an dem Buch zu arbeiten, wurde es eben das – ein Buch. Weniger mein Leben. Es mag wie ein Klischee klingen, aber die Figuren und Orte sagen mir, was als nächstes passiert. Ich mag es, Dinge zu erfinden, das macht mir Freude, selbst wenn ich über traurige Dinge schreibe. Ich würde lügen, wenn ich behauptete, alles wäre Fiktion. Auf der anderen Seite ist es genau das.

Trauer – oder besser Verlust von etwas Gewohntem und der unterschiedliche Umgang damit - ist eines der Themen von „Bring mich noch zur Ecke“. Überraschend ist, wie du darüber erzählst. Weshalb war dir das wichtig?

Als Kind dachte ich, Erwachsene wissen, wie alles läuft, treffen kluge, vernünftige Entscheidungen. Irgendwann habe ich festgestellt, auch Erwachsene sind manchmal völlig verloren und reagieren seltsam. Genau das interessiert mich. Bei den Kindern, die miterleben, dass ihre Eltern auch nicht weiter wissen. Bei den Erwachsenen, die plötzlich erkennen müssen, dass nicht alles läuft wie erwartet. Da finde ich mich wieder. Ich wollte über die unterschiedliche Art erzählen, wie Elise und Henrik mit Veränderung umgehen und versuchen, damit zurechtkommen.

Zunächst ja sehr gut – eben „erwachsen“ und ehrlich. Dann aber stellt sich heraus, dass Henriks Reaktion letztendlich doch fast eine Stereotype ist: Er beginnt ein Verhältnis mit einer sehr viel jüngeren Frau, die zwar nicht in seinem Fachbereich, aber an seiner Uni promoviert. Typisch männlich?

Als Stereotype möchte ich das gar nicht bezeichnen. Obwohl es ein Klischee sein mag, kann diese neue Beziehung für Henrik trotzdem Liebe sein und real. Klischees existieren aus einem Grund. Ich glaube, Henrik tut sein Bestes, einen Weg aus seiner eigenen Verletzung, seinem Kummer zu finden aber ja, es ist schwieriger für ihn, Gefühle zu zeigen oder darüber zu sprechen. Ich wollte über die sehr unterschiedlichen Arten erzählen, wie Elise und Henrik mit Verlust umgehen, und wie unterschiedlich sie damit zurechtkommen. Etwas, das in langen Ehen oft vorkommt, es muss nicht unbedingt vom Gender abhängig sein.

Neben vielen anderen Dingen mochte ich den anfänglichen Umgang der beiden mit der Tatsache, dass Elise sich in eine andere Frau verliebt und sich eine Beziehung außerhalb ihrer Ehe wünscht. Was war dir wichtig daran, hier eine entspannte erste Reaktion zu zeigen – eben keine Wut, keine Rache, keinen Streit?

Zwischen Elise und Henrik existiert dieses Verständnis füreinander, eine Solidarität auf Grund ihrer langjährigen Ehe und Kameradschaft. Wenn Elise sagt, sie hat sich verliebt, wollen sie das zunächst gerne gemeinsam handhaben. Daher ist die Verletzung und Überraschung für Elise auch so überwältigend, wenn sich die Dinge nach einer Weile ändern. Damit hat sie nicht gerechnet. Das wollte ich ausdrücken.

Avant Verlag

Wieso verliebt sich Elise in eine Frau, nicht in einen anderen Mann? Immerhin sind lesbische Geschichten zwar unglaublich wertvoll, weil sie Diversität sichtbar machen, leider werden viele davon aber nicht unbedingt Bestseller.

Ist das so? Na, gut, dass ich das nicht wusste! Die Geschichte genau so zu erzählen war für mich ein Bedürfnis. Auch wenn ich sie vordergründig nicht einmal lesbisch nennen würde. In erster Linie geht es um den Schock, den Aufruhr und all die Wirren, die etwas Lebensveränderndes nach sich zieht. Dass es eine Frau ist, in die sich Elise verliebt, macht da kaum einen Unterschied, wird nie groß herausgestellt, die Bezeichnung „gay“ wird nur ein einziges Mal benutzt und das in einem Lied.

A propos Lied: Der englische Titel „Walk me to the Corner“ ist ein Zitat aus dem Leonard Cohen Song „Hey, that’s no way to say goodbye“. Es heißt, das sei sein versöhnlichstes Abschiedslied. Wieso hast du das gewählt?

Ich liebe dieses Lied, seit es mir in meinen 20ern ein Engländer in Griechenland vorsang. Wie jede große Kunst veränderte sich das Lied mit meinem eigenen Leben und bekam unterschiedliche Bedeutung zu unterschiedlichen Zeiten.

Für wen hast du „Bring mich noch zur Ecke“ geschrieben?

Zu allererst für mich. Aber ich hoffte auf eine Leserschaft im selben Alter wie Elise. Menschen mit einem Leben, in dem sie sich eingerichtet haben, und die wie Elise am Anfang des Buches glauben, sie müssten sich nur zusammenzureißen. Inzwischen weiß ich, dass auch Jüngere mein Buch lesen, die es noch einmal anders sehen. Jemand fand es sogar romantisch und das machte mich sehr glücklich.

Welche LGBTQ*-Geschichten und –Themen sollten deiner Meinung nach noch sichtbarer werden und sind notwendig zu erzählen?

Ich glaube, wir werden in Zukunft mehr Geschichten über Geflüchtete aus Ländern lesen, in denen es unmöglich oder problematisch ist, offen zu leben. Ein weiteres wichtiges Thema ist das Verschweigen von und die Vorurteile gegenüber Bisexuellen – nicht nur von Seiten Heterosexueller sondern auch aus den eigenen Reihen, der LGBTQ*-Community. Und mich interessieren Geschichten über queere Beziehungen im Alter, und ich meine damit über Menschen, die noch älter sind, als ich es jetzt bin (Mitte fünfzig, Anm. d. Red.).

Zum Abschluss würde ich dir gerne noch ein paar kleine, spaßige Fragen stellen: Würde aus „Bring mich noch zur Ecke“ eine Netflix-Serie, wie sähe wohl die zweite Staffel aus?

Es gäbe wohl eine Menge Trennungen und erneutes Wiederzusammenkommen, Gespräche und Geseufze, gefolgt von weiteren Trennungen und Wiedervereinigungen. Und dann würden die Zuschauer:innen sich irgendwann langweilen, und vor der dritten Staffel würde die Serie abgesetzt (lacht).

Mit wem - tot oder noch lebend - würdest du gerne ein gemeinsames Projekt angehen und welches wäre das?

Hmmm, vielleicht etwas mit August Strindberg? Auf der anderen Seite würden wir vermutlich ständig miteinander streiten. Bei näherem Nachdenken würde ich mich eher für E.M. Forsters „Maurice“ entscheiden. Und ich würde mich wirklich freuen, wenn jemand eine Oper aus „Bring mich noch zur Ecke“ machen wollte. Oder ein Musical zu meinem Comic “Red Winter“. Ist irgendwer interessiert?

Welches schwedische Werk mit einem queeren Thema sollte man unbedingt gesehen haben?

Den Film „Fucking Åmål“ von Lukas Moodyson aus dem Jahr 1998 (lesbischer Coming Out-Film, dt. Titel: Raus aus Åmål“, Anm. d. Red.). Er war für viele direkt lebensverändernd Und lustig ist er auch.

Ameli Furmark: Bring mich noch zur Ecke, Avant Verlag, 232 Seiten, 25 Euro

 

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