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Berliner Preis für lesbische* Sichtbarkeit 2022 an Saideh Saadat-Lendle

Saideh Saadat-Lendle, Gründerin des Beratungsprojekts LesMigras, wurde für ihr großes Engagement mit dem Preis für lesbische* Sichtbarkeit des Landes Berlin ausgezeichnet. Im Interview spricht sie über ihr Lebenswerk und ihre Geschichte.

Jason Harrell Saidat Saadat-Lendle mit dem Preis, der seit 2018 alle zwei Jahre verliehen wird

Von Gudrun Fertig

27.4.2022 - Der mit 5.000 Euro dotierte Berliner Preis für Lesbische* Sichtbarkeit 2022, der am 26. April im Roten Rathaus verliehen wurde, ging an LesMigraS-Gründerin Saideh Saadat-Lendle. Geehrt wurde ihr ausdauerndes Engagement gegen Mehrfachdiskriminierung. Tief gerührt dankte Saideh Saadat-Lendle bei der Preisverleihung allen, die sie zu ihrer Arbeit inspirierten und sie auf dem Weg unterstützten.

Mit auf der Shortlist der ehrenamtlich tätigen Jury für den Preis war Anastasia Klevets für ihr Engagement bei Quarteera e.V., einer Organisation russischsprachiger queerer Personen, die aktuell auch in der Hilfe für Geflüchtete aus der Ukraine sehr aktiv ist. Außerdem die Historikerin Katja Koblitz, die für ihr langjähriges Engagement in lesbisch-feministischer Geschichtsschreibung, unter anderem beim Lesbenarchiv Spinnboden und mit etlichen Publikationen, Workshops und Stadtführungen, geehrt wurde.

Unser Interview mit der Preisträgerin Saideh Saadat-Lendle über ihr Lebenswerk und ihre Geschichte haben wir unserem Schwestermagazin „Siegessäule“ (Nov. 2021) entnommen.

Saideh, wie war das, als du 1997 bei der Berliner Lesbenberatung angefangen hast?

Ich kam aus der autonomen Frauen/Lesbenszene. Entsprechend sah ich aus, kurze Jeanshose und kaputtes Hemd. Drei Frauen saßen vor mir, die für meine Begriffe alle ziemlich bürgerlich aussahen. Ich war sicher, dass sie mich nicht nehmen, so einen autonomen Hippie. Aber dann habe ich mit 10 Stunden als Honorarkraft dort angefangen.

Wie war das, Anfang der 90er-Jahre nach Berlin zu kommen, wie hast du die Szene erlebt?

Das war anfangs total befreiend. Sehr aktiv, sehr kollektivistisch. Ich habe in einer großen Frauen/Lesben-WG gewohnt, dort waren auch illegalisierte geflüchtete Frauen dabei. Später gab es dann mehr Trennendes in der Szene, auch Rassismus und der Umgang damit wurden allmählich Thema.

Warum hast du 1999 aus der Lesbenberatung heraus LesMigraS gegründet?

Ich hatte Kontakt zu anderen Schwulen und Lesben of Color, und wir haben festgestellt: es fehlen Unterstützungsstrukturen. Zur Lesbenberatung kamen damals nur wenige BIPoC (= Schwarz, Indigen, People of Color). Es gab zur selben Zeit ein paar Suizidversuche von Lesben und Schwulen of Color. Ich habe alle lesbisch-schwulen und Frauenprojekte angeschrieben, nirgends gab es eine BIPoC-Kolleg*in, die Hilfe anbieten konnte.

Warum habt ihr, LesMigraS und die Lesbenberatung, euch nie ganz getrennt?

Das war meine Vision, dass LSBTIQ of Color und weiße LSBTIQ miteinander arbeiten. Die Lesbenberatung hat hauptsächlich Beratung, Gruppenarbeit und Sensibilisierung in Frauenzusammenhängen gemacht. Unser Thema war Mehrfachdiskriminierung, was damals niemand kannte oder verstehen wollte.

Was verstehst du selbst genau darunter?

Das heißt, dass die Mehrheit der Menschen mehrdimensionale Lebensrealitäten hat, die miteinander verwoben sind. Wenn diese Lebensweisen marginalisiert werden und Menschen diskriminiert werden, findet das auch mehrdimensional statt. Zum Beispiel sind Rassismuserfahrungen von einem Schwarzen Mann oder einer Schwarzen Frau oder einer Schwarzen trans* Person jeweils anders. Ich hatte damals vor, russische, türkische und iranische LSBTIQ zusammenzubringen, und auch dort war es in jeder einzelnen Community schon alleine sehr unterschiedlich.

Gibt es im Rahmen des Konzeptes auch neue Lösungen, um Gesellschaft zu verändern?

Mehrfachzugehörige sind an der Schnittstelle von mehreren Lebensrealitäten. Die Auseinandersetzung damit kann die Gesellschaft verändern. Man lernt, dass es ohne ein wohlwollendes, achtsames Miteinander meist Verletzungen gibt, auch wenn man einige gleiche Zugehörigkeiten hat. Es geht nicht um Festlegung auf irgendeine Lebensweise, sondern um Achtsamkeit für alle Lebensrealitäten.

Ist das über LesMigraS hinaus in der Community angekommen?

Es ist eine gewisse Offenheit für das Konzept da. Im Unterschied zu früher, da haben es z. B. meine Kolleg*innen anstrengend gefunden zu überlegen: was ist schiefgelaufen, wie kann man achtsamer sein? Das ist besser geworden. Die Arbeit von BIPoC wird wertgeschätzt, der Bedarf wird gesehen, aber es hat sich noch nicht ganz durchgesetzt.

Das scheint mir auch ein sehr lesbisches Schicksal, dass Lesben in der Community nicht so ernst genommen werden?

Die Frage ist, warum Frauen politisch aktiver sind, obwohl Schwule immer betonen, dass sie in Sachen Emanzipation eine längere Tradition haben. Aber sich intersektionell, mehrdimensional, antirassistisch, gegen Transphobie zu engagieren, da waren Frauen konsequenter. Aus meiner Sicht hat LesMigraS viel mehr im Bereich Veränderung der Strukturen, Sensibilisierung, Empowerment und Beratung gearbeitet als schwule Organisationen, aber wir haben uns weniger damit gebrüstet. Vielleicht hat uns auch das Verständnis dafür gefehlt. Ich habe immer gedacht, warum muss ich meine Zeit so viel mit Politiker*innen verbringen, warum sehen sie nicht, dass wir wichtige Arbeit machen? Irgendwann haben wir angefangen, unsere Inhalte auf Podien und Konferenzen zu vermitteln. Dadurch sind wir sehr bekannt geworden.

Woher kommt dein Aktivismus? Du warst erst in Iran politisch, später in Berlin lesbenpolitisch, dann für BIPoC aktiv.

Vielleicht durch die ungerechte Behandlung meiner Geschwister zu Hause. Auch meine Freundinnen waren in meiner Kindheit von Klassismus betroffen, als Mädchen auch von Frauenfeindlichkeit und Verheiratungen, davon, aus Geldmangel nicht weiter zur Schule gehen zu können. Ich komme aus dem Süden von Iran, in der Nähe von Afghanistan. Dort leben Belutschen, sie sind stark von Klassismus betroffen, das habe ich als Kind mitbekommen. Dieses Wissen war immer da: Diese Gesellschaft muss sich verändern. Dann habe ich mich an der Uni in Iran gegen die Armut im Land engagiert. Wir haben Geld, Essen, Teppiche gesammelt. So bin ich Aktivistin geworden und in die linke Partei eingetreten. Es ging um Redefreiheit, gegen Gefangenschaft und Folter.

Was machst du, wenn du gegen Ende 2021 bei LesMigraS aufhörst?

Ich will weiter Bildungsarbeit machen, ich mache viele Workshops zu Antidiskriminierung, Antirassismus, Empowerment von BIPoC und anderes. Und ich bin auch Ausbilderin von „Eine Welt der Vielfalt“. Daneben möchte ich schreiben, über meine Erfahrungen der letzten 25 Jahre, die schmerzhaften und schönen, krassen und empowernden.

Was ist dir besonders gut geglückt und was wünschst du dir noch?

Ich fand toll, dass LesMigraS es geschafft hat, für Mehrfachdiskriminierung Verständnis zu schaffen. Was nicht gelungen ist: dass wir einen guten Umgang in der Szene mit Ausschlüssen finden. Bei ungefähr der Hälfte der Beratungen in den letzten Jahren ging es um gegenseitige Verletzungen innerhalb der LSBTIQ und der BIPoC-Community. Viele setzen viel Hoffnung in die Community, haben durch das Coming-out die Familie, die Freund*innen verloren. Mit der ersten Enttäuschung in der Community kommen dann alle Verletzungen hoch, und man begegnet Menschen, denen man sehr nah war, als Feind*in.

Du wirkst dennoch sehr gelassen. Bist du mit den letzten fast 25 Jahren deiner Arbeit zufrieden?

Ja, ich konnte so viele kreative Projekte umsetzen, tolle Menschen kennenlernen. Was wir mit LesMigraS geschafft haben, auch bundesweit zu bewegen, ist großartig, und ich bin sehr stolz darauf. Es war mein Herzensanliegen, und ich weiß, dass ich viel bewegt habe.

Im Rahmen der Preisverleihung am 26.4.2022 stellten wir Saideh noch diese zusätzliche Frage:

Der Berliner Preis für Lesbische* Sichtbarkeit ist eine wundervolle Ehrung für dein fast 25-jähriges Engagement für LesMigraS. Woran hast du gedacht, als du erfuhrst, dass du den Preis bekommen wirst?

Es hat mich gerührt und ich habe mich gefragt, was mit den Menschen ist, die im Hintergrund zu dieser Arbeit beigetragen haben. Ich habe mich schon länger mit der Bedeutung von Preisen auseinander gesetzt und finde es schade, dass bei solchen Ehrungen meist nur einige wenige Personen im Vordergrund stehen. Es ist mir wichtig, auch die anderen sichtbar zu machen, die dazu beigetragen haben, denn dies ist nicht nur mein Verdienst. Ich möchte zurückgeben, was ich von so vielen Menschen durch ihr Engagement und ihre Arbeit bekommen habe.

 

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