Filmpremiere „Blindgänger“: Ängste, Liebe und Verbundenheit während einer Extremsituation
Beim Filmfest Hamburg feierte gestern „Blindgänger“ der queeren Filmemacherin Kerstin Polte Premiere. Der Episodenfilm rund um eine Bombenentschärfung ist wunderbar ernst und unterhaltsam zugleich, queer und lesbisch, aktuell und geschichtsrelevant.
Von Kerstin Rudat
29.9.2024 - Lane (Anne Ratte-Polle) muss sich entscheiden. Und sich ihrer Angst stellen. Im doppelten Sinn. Die Liebe annehmen, die ihr in Form ihrer psychologischen Betreuerin Ava (Haley Louise Jones) begegnet ist. Und kühlen Kopf bewahren und diesen Blindgänger im Hambuger Neubau-Boden entschärfen, der gerade erst eine Evakuierung in größerem Radius nötig ge-macht hat. Lane ist Expertin des Kampfmittelräumdienstes. Auf ihr lasten die Hoffnungen hunderter Menschen. Und wenn sie es nicht schafft, ist ihr Leben das erste, das ausgelöscht ist.
Lanes Geschichte ist eine von mehreren, die die queere Autorin und Regisseurin Kerstin Polte in ihrem neuen Film Blindgänger rund um die Entdeckung einer Bombe aus dem Zweiten Weltkrieg webt. Ein Episodenfilm, der sieben Jahre brauchte, ihn zu produzieren. Das Beson-dere ist nicht nur die Erzählweise. Besonders ist auch, dass der Film viele queere Protago-nist:innen hat, eine queere Produktionsfirma, einen queeren Verleih und viele queere Unter-stützer:innen, die auch während der Corona-Pandemie dem Projekt treu blieben und für weniger Geld als vorgesehen arbeiteten.
Queeren Stoff Raum geben, aber weg von der reinen Repräsentation
Es ist kein klassischer lesbischer Stoff, den Polte geschrieben und inszeniert hat, das reizt sie auch gar nicht mehr. Diese Geschichten seien auserzählt, sagt sie im Gespräch mit L-MAG. „Die Biografie darf schon mitspielen, aber nicht der Punkt sein. Wir können queeren Stoffen einen Raum geben, aber wir müssen weg von der reinen Repräsentation.“ Das sei früher vor allem wichtig gewesen, Coming-out-Geschichten etwa, um Sichtbarkeit zu schaffen.
Und so geht es neben der zarten Liebesgeschichte zwischen Lane und Ava auch um einen trans Jugendlichen (Lukas von Horbatschewsky, Druck), aber hier steht nicht seine Identität im Vordergrund, sondern die Probleme, die er mit seiner kranken Mutter hat.
Jede:r trägt Ängste oder gar ein Trauma mit sich rum
Da ist der Ehemann (Bernhard Schütz) mit seiner Krebs-Diagnose, die er seiner Frau (Claudia Michelsen) verschweigt, und der seine schwule, künstlerische Seite entdeckt. Es gibt den vermutlich schwulen ehemaligen Varieté-Künstler, der mit dem „Sich verstecken-Müssen“ ebenso Erfahrungen hat wie der geflüchtete junge Mann aus Afghanistan, und die demente Seniorin, die beide echte Bomben kennen.
So trägt jede:r Ängste oder gar ein Trauma mit sich rum. „Wir sind näher dran am Tod als am Leben“, sagt gleich zu Beginn einer der Protagonisten. „Es geht darum, die eigenen Bomben nicht mehr unter Kontrolle halten zu können“, erklärt Polte ihren Film. „Der Ausnahmezustand Explosionsgefahr war da eine gute Erzählfläche“.
„Durch Komik komme ich einer Sache näher“
Menschen in Extremsituationen neigen dazu, etwas zu wagen, zu klären, neu zu beginnen, etwas abzuschließen. Neue Ehrlichkeiten zu entwickeln. Und so ist Blindgänger bei all der Dunkelheit auch ein lustiger Film, der seinen Zuschauer:innen oft einen „Comic Relief“ gönnt. „Denn“, sagt Polte, „durch Komik komme ich einer Sache näher.“
Die „Sache“: Immer noch schlummern viele Blindgänger aus dem Zweiten Weltkrieg in der Erde. Expert:innen gehen von 100.000 bis 300.000 Tonnen Kampfmittel aus. Je länger die Blindgänger im Boden liegen, so Polte, umso unberechenbarer würden sie und umso diffuser unsere Angst. Gleichzeitig läge auf den Menschen beim Kampfmittelräumdienst ein wahnsinniger Druck. Dieses „völlig untererzählte Thema“ habe sie gereizt. Wie gut, dass sie so hartnäckig Licht hereingebracht hat.
Blindgänger, D/ CH 2024, Regie/ Buch: Kerstin Polte, 95 min., kommende Screenings: 3. Okt. (Filmfest Hamburg), 4. Nov. (Queer Film Fest Weiterstadt), 7. Nov. (Festival des deutschen Kinos, Mainz), Kinostart: vorauss. März/ April 2025
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