Holy Shit! Die lesbische Oper „Sancta“ feiert die sexuelle Selbstbestimmung
Die lesbische Opern-Performance „Sancta“ von Florentina Holzinger machte im Oktober Schlagzeilen, weil Zuschauer:innen bei einer Aufführung in Stuttgart schlecht wurde. Jetzt lief das „Skandal“-Stück in Berlin – und unsere Rezensentin war begeistert!
Von Nina Süßmilch
18.11.2024 - Zwei nackte Frauen laufen aufeinander zu, sehen sich in die Augen und scheinen sich leicht zuzunicken. Los geht's. Sie beginnen sich zu küssen, wild und hemmungslos, umschlingen einander, berühren sich, stöhnen. Es wird nicht lange dauern und sie werden – weiter hinten auf der Bühne – minutenlang Sex miteinander haben, sich festklammernd an einer riesigen Kletterwand, bevor sie an einem überdimensionalen Kreuz einander oral befriedigen.
Weiter vorne, am offenen Orchestergraben knieend singt sich die Nonne Susanna um Kopf und Kragen. Sie wird für ihre sexuelle Selbstbestimmung von dem gesamten Nonnenchor bestraft werden. Und davon gibt es viele. Der Chor tritt rechts und links im Zuschauerraum singend zum ersten Mal auf und schiebt sich wie eine bedrohliche Größe auf die Bühne. Dort, wo immer mehr nackte Frauen aus dem Graben klettern und an die Kletterwand kriechen, um an selbiger dann wie umgedrehte Kreuze nackt zu hängen.
Buntes, organisches Chaos
Florentina Holzinger, die österreichische Choreografin, Performerin und Regisseurin ist bekannt für ihre körperliche Arbeit. Und sie weiß ganz offensichtlich, wie sie Atmosphäre auf die Bühne und in den Saal bringt. Und mit ihr ein sehr großer Stab des Mecklenburgischen Staatstheaters und verschiedenster Musiker:innen.
In der Oper sind unter anderem als performender Cast und Musikerinnen zu sehen: Born in Flamez und Otay:onii. Die musikalische Leitung hatte Marit Strindlund und sie musste einiges zusammen bringen aus diesem Potpourri an Musik: vom Musical über Heavy Metal, Rock bis Techno.
Und es funktioniert hervorragend! Überhaupt ist die Zusammensetzung des Chores, des Ensembles und der Musiker:innen ein kleiner Geniestreich. Denn es wird gerade nicht zu viel. Es ist überbordend und laut, ja, aber immer bettet Holzinger mit dem Ensemble die Botschaft in ein buntes, organisches Chaos ein: Don't dream it, be it! So werden am Ende auch alle Zuschauenden aufgefordert, mit in den Song einzustimmen, was - überraschend genug - im unter-coolten Publikum der Hauptstadt tatsächlich gelingt.
Zu den schönsten Momenten gehört, wenn Saioa Alvarez Ruiz als „erster lesbische Päpstin“ festgezurrt an Gottes langem Robotikarm auftritt oder ein riesiges Weihrauchgefäß über der Bühne hin und her schwebt, wie ein Metronom den Takt vorgebend und Weihrauch verströmt. An ihm herum klettern nackte Wesen, machen sich dieses Ritual der Weihung auf ihre Art zueigen.
Nicht nur riecht es gut (wenn man keine traumatischen Erinnerungen an katholische Gottesdienste damit verbindet), sondern es ist auch einfach sehr witzig und befreiend anzuschauen. Das ist eine der größten Finessen von Holzinger. Die Nacktheit der Darstellenden vermittelt nicht nur ihre Verletzlichkeit, die auch sehr bildlich dargestellt wird, sondern es zeigt auch eine ungemein beeindruckende Freiheit. „Hier bin ich in meinem Wesen und ich lass mich nicht mehr beschämen!“
Opulentes Fest der Intimität
Die Essenz des Abends, der wie ein opulentes, ausuferndes, sinnliches Fest anmutet, an das man noch lange denkt, ist das Zusammen-sein und einander in die Augen sehen, Intimität und Erfahrungen teilen und Achtung (!) ertragen. Irgendwann sitzen sich die Performer:innen kurz vor dem letzten Abendmahl gegenüber und teilen ihre Kindheits- und Jugenderfahrungen, die geprägt sind von Gewalt und (sexuellem) Missbrauch. Sie teilen sich mit und nehmen dadurch ihren Platz ein.
Der Abend endet mit der Energie eines Happenings, das man vielleicht aus den USA und ihren Mega-Churches kennt: Lautes gemeinsames Singen und Klatschen und Tanzen. Streckt die Hände in die Luft und fühlt die Energie! Die Zeiten sind hart und wenn man sich auf genau dieses Spektakel einlässt, mehr noch, wirklich bereit ist die Magie von 50 Frauen auf der Bühne aufzunehmen, dann spürt man: Gemeinsam geht es und da soll es bunt und laut und gut sein – ein Abend des Feminismus voller Lachen und Tanz.
Für 2024 sind aktuell keine weiteren Aufführungstermine angekündigt.
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