L-Mag

"Ich habe Spaß daran, über LGBT*-Themen zu schreiben"

Tillie Walden, erfolgreiches Comictalent aus den USA, verarbeitet in ihrer Graphic Novel „Pirouetten“ ihre Zeit als junge Eiskunstläuferin und ihr Coming Out. Wir unterhielten uns mit der Texanerin, die sich mit fünf zum ersten Mal in eine Frau verliebte.

Annemarie Rogers

Von Simone Veenstra

30.3.2019 - Nicht einmal zwanzig Jahre alt war Tillie Walden, als ihre erste Graphic Novel herauskam. Und die Texanerin war noch wesentlich jünger, als sie als Comic-Künstlerin entdeckt wurde. Kein einfacher Weg für eine junge Lesbe, die erst einmal lernen musste, mit all der Aufmerksamkeit zurechtzukommen.

Ihr aktuelles Buch „Pirouetten“ ist ein autobiografischer und unglaublich ehrlicher Comic über ihre Zeit als junge professionelle Eiskunstläuferin. Von privaten und sportlichen Herausforderungen, denen nicht alle gewachsen sind, erzählt Tillie Walden, und dazu gehört auch ihr lesbisches Coming Out.

Sehr vielschichtig wirft „Pirouetten“ dabei einen genauen und entlarvenden Blick auf weibliche Schönheitsideale, die immer von anderen bestimmt werden: Trainern, Eltern und Jurymitgliedern.

Kein Wunder also, dass auch die Frage nach Gender-Rollen ebenso schnell in den Fokus rückt wie das untergründig immer lauernde Problem der sexualisierenden Gewalt. Die schleicht sich fast nebenbei in dumme Sprüche oder den nicht hinterfragten Ansprüchen ein. Zum Beispiel, wie kurz die Röcke zu sein haben, die die Mädchen bei einem Turnier tragen müssen. Oder aber, dass sie keinen BH tragen sollen, und was sie tun, damit ihre Brustwarzen trotzdem nicht sichtbar sind.

L-MAG-Autorin Simone Veenstra, selbst Verfasserin zahlreicher Romane, hat sich mit Tillie Walden unterhalten.

 

L-MAG: Tillie, "Pirouetten" zieht einen unglaublich hinein in die Geschichte, auch in eine lesbische Liebe, die nicht ausgelebt werden kann, aber sehr wichtig ist. Wann hast du geahnt, dass du lesbisch bist, und wie hat das deine künstlerische Arbeit beeinflusst?

Tillie: Ich war fünf, als ich mich das erste Mal verliebte - in eine Frau, die mir half, meine Jacke anzuziehen. Kein Witz! Das wirklich Verrückt aber ist: Die Tatsache, dass ich mich von Frauen angezogen fühle, und die Themen meiner Comics hatten sehr lange kaum etwas miteinander zu tun. Erst im Teenager-Alter verstand ich, dass mein Lesbisch-Sein – in den Augen anderer - etwas sein kann, dessen ich mich schämen sollte. Als Kind dachte ich, sich in Frauen zu verlieben wäre ebenso so normal wie blondes oder dunkles Haar zu haben!

Während du noch zur Schule gingst, hast du einige davon im Web veröffentlicht und wurdest damit von deinem ersten Verlag (Avery Hill Publishing) entdeckt. Wie fühlte sich das für dich an?

Bizarr! Und um ehrlich zu sein: auch ein bisschen unbehaglich. Ich aß gerade einen Hamburger nach dem Unterricht, checkte währenddessen meine Mails, und als ich sah, dass Avery Hill mir geschrieben hatte, dachte ich zunächst, das wäre ein Witz! War es nicht. Sie hatten die Comics auf meiner Webseite gesehen. Nur: Die waren alle depressiv, dunkel und schräg, eben typische Comics eines lesbischen Teenagers. Und mit der darauffolgenden großen Aufmerksamkeit kam ich auch nicht so recht klar! Weshalb ich erst ein Jahr später damit begann, wirklich mit Avery und Dave Hill zusammenzuarbeiten. Und das war gut so. Ich brauchte Zeit. Das ist übrigens etwas, das ich allen meinen Studierenden immer wieder mitgebe: Sich Zeit zu nehmen, ist unglaublich wichtig!

Zeit wofür?

Zeit, zu wissen, was man schreibt und zeichnet. „I love this Part“ [erschien 2015, als Tillie 19 war], meine zweite Graphic Novel, war beispielsweise der Versuch, mich meinem Lesbisch-Sein anzunähern. Bis dahin hatte ich nichts darüber geschrieben. Meine eigenen Gefühle künstlerisch auszudrücken, war für mich zu der Zeit unglaublich wichtig! Ich war eifrig, nicht aufzuhalten und machte einfach drauf los!

Reprodukt Verlag

Und jetzt? Sind lesbische Themen jetzt anders wichtig?

Auf jeden Fall! Anfangs hatte ich Angst, wollte nicht darüber schreiben, musste mich erst langsam daran gewöhnen. Jetzt fühle ich mich wohl damit, bin stolz darauf, über LGBT* Themen zu schreiben und habe Spaß daran. Aber du darfst nicht vergessen: Als ich anfing, war ich noch ein Kind, nicht fähig oder bereit, mich öffentlich mit meiner Identität auseinander zu setzen oder gar eine Verfechterin dafür zu sein. Ich musste erst mal selbst damit klar kommen, wer ich eigentlich bin und was genau meine lesbische Identität bedeutet! Meine Karriere ging so plötzlich steil nach oben, da war das eine echte Herausforderung. Eben weil meine Bücher so viele Leute lesen und erreichen – das ist schließlich eine große Verantwortung!

Sicher fühlen sich auch etliche Menschen von der Offenheit angezogen, die in deinen Arbeiten steckt. Magst du uns mehr darüber erzählen, wie du zu der Idee von "Pirouetten" kamst?

Damals war ich 19, machte keinen Eiskunstlauf mehr, aber es beschäftigte mich noch sehr. Comics zu machen war zu der Zeit meine Art, mich auszudrücken, also entschloss ich mich, so zu verstehen zu versuchen, was damals wirklich mit mir geschehen ist. Um ehrlich zu sein, ich wusste anfangs nicht wirklich, was ich da tat, ich machte einfach. Fast ein Jahr lang saß und dachte ich. Dann begann ich zu zeichnen, und die meiste Zeit war ich mit meinen eigenen Erinnerungen beschäftigt und damit zu begreifen, was damals eigentlich stattgefunden hat. Und stellte fest: Das Arbeiten an dem Comic war heilend. Ich musste dieses Buch machen. Dass es nun publiziert ist, das ist etwas sehr Besonderes. Und natürlich hoffe ich, dass Menschen es lesen und damit etwas anfangen können!

Bekommst du Rückmeldungen von deinen Leserinnen?

Durchaus! Es gibt viele, die sich in meiner Arbeit gespiegelt sehen und sich gerade dadurch mit sich selbst und ihren eigenen Bedürfnissen auseinander setzen. Und ich bin wirklich stolz darauf, ein Teil davon zu sein.

Woran arbeitest du denn jetzt?

Mein nächstes Buch ist eine fiktionale Geschichte und heißt „Are You Listening?“ [erscheint im Herbst 2019]. Es geht um Freundschaft, eine Reise, Trauma und Magie und noch ein paar andere Dinge. Es ist schwierig zusammenzufassen. Danach arbeite ich an noch einigen anderen Büchern.

Und was wäre dein Ratschlag für Menschen, die darüber nachdenken, eine Graphic Novel zu veröffentlichen? Speziell eine, die mit ihrem eigenen Leben zu tun hat, damit queer zu sein und deshalb den ein oder anderen Kampf ausfechten?

Zu allererst ist es wichtig festzustellen, mit was man genau kämpft. Damit eine Geschichte fertig zu schreiben? Mit der Angst vor dem Urteil anderer? Will man unbedingt erfolgreich sein, oder glaubt man, perfekt sein zu müssen? Wenn es darum geht, künstlerisch tätig zu sein, hilft es zu verstehen, was dich abhält oder hindert. Wenn man das erst mal weiß, kann man Schritt für Schritt machen. Kein Buch entsteht in einem einzigen Tag, also heißt es, tief Luft zu holen und sich selbst Zeit zu geben. Und ja, es ist nicht ganz einfach, aber das wichtigste ist, an sich selbst zu glauben. Niemand macht gleich alles perfekt. Und das ist auch gut so. Denn das Wichtigste ist: Etwas so zu tun, wie du es willst, und dann klappt es auch.

Jetzt sind wir sehr in die Tiefe gegangen, lass mich dir noch ein paar kleine absurde Fragen stellen, bei denen du ganz spontan antwortest, ja?

Schieß los!

Mit welchen deiner Vorbilder - lebend oder tot - würdest du gerne einen Tag verbringen?

Auf jeden Fall mit der schwedischen Künstlerin Hilma Af Klint (Anm. d. Red.: lebte 1862-1944). Außerdem mit Kate McKinnon [Anm. d. Red.: Lesbische Schauspielerin/ Comedian].

Wo wäre das und was würdest du mit den beiden tun?

In einem Holzhaus irgendwo in den Wäldern von Vermont in Nordamerika. Im Kamin würde ein Feuer vor sich hinprasseln, wir hätten eine gut ausgestattete Bibliothek und vermutlich auch Alkohol.

Welches bekannte Buch würdest du gerne neu erzählen und warum?

Entweder Tana French’s „The Secret Place“ [dt. Titel: „Geheimer Ort”], weil ich das Buch unglaublich verehre und sehr gut darin bin, Teenagerinnen zu zeichnen, die sich mit wirklich heftigen Dingen beschäftigen müssen. Oder vielleicht „Hard boiled Wonderland and the End oft the World“ [dt. Titel: „Hard-Boiled Wonderland und das Ende der Welt“] von Haruki Murakami. Ich würde sehr, sehr gerne jene Welten zeichnen, die er erschafft.

Tillie Walden hat fünf Graphic Novels und mehrere Comics, darunter den Webcomic "On A Sunbeam", veröffentlicht. Auf deutsch erschienen ist bisher nur "Pirouetten" (Reprodukt Verlag, 2018, 400 Seiten, 29 Euro). 

Mehr über Tillie erfahrt ihr auf ihrer Webseite.

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