Kino-Tipp „Benedetta“: Lesbensex, Jesus-Visionen und rätselhafte Stigmata
In seinem Lesbendrama „Benedetta“ holt der Regie-Provokateur Paul Verhoeven zum Rundumschlag gegen die katholische Kirche aus und präsentiert ein unterhaltsames Trashfeuerwerk, das über Macht, Missbrauch und Selbstbestimmung nachdenkt. Ab 2. Dez. im Kino.
Von Sarah Stutte
30.11.2021 - Im Jahr 1986 veröffentlichte die US-amerikanische Historikerin Judith Cora Brown ein Buch über einen Fall, dessen Prozessakten sie nach 350 Jahren in den Archiven von Florenz wiederentdeckt hatte: „Schändliche Leidenschaften: das Leben einer lesbischen Nonne in Italien zur Zeit der Renaissance“. Das Buch wurde in zwölf Sprachen übersetzt und löste in Historikerkreisen eine geschichtswissenschaftliche Debatte darüber aus, ob sich beispielsweise das Labelling als „lesbische Nonne“ überhaupt rechtfertigen ließe, da zur damaligen Zeit andere Denkmuster vorherrschten und deshalb „besessene Nonne“ oder „betrügerische Mystikerin“ vielleicht die treffenderen Bezeichnungen gewesen wären.
Da sich Brown rein auf die ihr vorliegenden Unterlagen stützte und es unterließ, manche Quellen genauer zu prüfen, befand man das Werk summa summarum als erzählende Illustration eines historischen Einzelschicksals. Als sich jedoch der holländische Regisseur Paul Verhoeven darauf bezog und die Geschichte für die Leinwand adaptierte, löste er damit erst recht einen Skandal aus.
Sorgte beim Filmfestival in Cannes für Aufregung
Beim diesjährigen Filmfestival in Cannes, wo Benedetta Premiere feierte, waren Filmkritik wie Publikum gleichermaßen in heller Aufregung darüber. Die einen störten sich an den Nackt- und lesbischen Sexszenen, die anderen am Stich ins Herz der katholischen Kirche, und beides vereint in Form eines holzgeschnitzten Marien-Dildo war erst recht anstößig. Zu reden gab sicher auch der nicht zu leugnende Trash-Faktor und die teilweise brutalen Bilder.
Aber erst mal zur Geschichte: Im Italien des 17. Jahrhunderts wütet die Pest und rafft einen Großteil der Bevölkerung dahin. In diesen unsicheren Zeiten wird Benedetta Carlini als Kind von ihren Eltern in ein Kloster im toskanischen Pescia gebracht. Hier soll sie künftig als Novizin dem Herrn dienen. Schon in diesen ersten Szenen zeigt sich, dass Benedetta womöglich über bestimmte Kräfte verfügt, die ihr gewisse Vorteile im Leben verschaffen. Was sich ein paar Filmsequenzen weiter auch noch offenbart: ihre offensichtliche Affinität zum weiblichen Körper. Denn als eine lebensgroße Statue der Jungfrau Maria auf sie fällt, küsst sie deren nackte Brust.
Die Äbtissin beobachtet Benedetta und Bartolomea beim Sex
Später als junge Frau (gespielt von Virginie Efira) wird sie von Visionen heimgesucht, in denen sie intensiv ihre Liebe zu Jesus spürt und wiederholt betont, seine „Braut“ zu sein. In einer dieser recht wilden Träume hängt Jesus blutend am Kreuz und hat interessanterweise kein Geschlecht, als sie sich ihm oberkörperfrei nähert und sein durchbohrten Hände umfasst. Am nächsten Morgen weist Schwester Benedetta dieselben Wunden an Händen und Füßen auf. Nachdem die Äbtissin (ein Erlebnis: Charlotte Rampling) ihr Misstrauen äußert, zeigt sie kurz darauf auch auf ihrer Stirn die Stigmata und bringt ihre Zweifler mittels dämonischer Stimme zum Schweigen.
Fortan wird sie im Kloster und vom Volk als Heilige verehrt und zur neuen Äbtissin ernannt. Mit ihrer Vertrauten Bartolomea (Daphné Patakia - lest auch unser Interview im aktuellen L-MAG 6/2021 - hier als E-Paper) – einem Mädchen von der Straße – zieht sie in größere Gemächer, wo die beiden bald auch „einander dienen“, in Einbezug des besagten Holzheiligen-Dildos. Das sieht durch ein Guckloch in der Wand die abgesägte Äbtissin. Sie ruft den Nuntius in Florenz auf den Plan, der daraufhin den historisch verbrieften Prozess gegen Benedetta und Bartolomea führt.
Sexploitation und Kirchenkritik
Zugegeben, die ulkigen Jesus-Heldenszenen sind eher belustigend, Sexszenen kommen nur wenige vor und die Gewalt ist ebenfalls dosiert, aber wenn sie sich zeigt, dann fährt sie schon ein – wie in der Folterszene, die nichts für zarte Gemüter ist. Wer also mit alledem nicht so viel anfangen kann und wem der Lesbenpegel hier zu wenig ausschlägt, der wird sicher mit Benedetta nicht gut unterhalten.
Trotzdem lohnt sich ein Blick unter den Sexploitation-Mantel, denn der Film wirft durchaus interessante Fragen auf. Paul Verhoeven geht es in erster Linie um die Auseinandersetzung mit Machtstrukturen, Identität und religiösem Eifer. Mit der lesbischen Beziehung bringt der Skandaleur par excellence seine Kritik über die Vertuschung des sexuellen Missbrauchs in der Kirche zum Ausdruck und prangert deren Doppelmoral an.
Spannende Frauenfiguren, die selbstbestimmt ihr Leben leben
Dieser rebellische Geist des mittlerweile 83-Jährigen, der jahrelang ein Jesus-Seminar besuchte und sich auch in seinen früheren Filmen mit religiösen Motiven beschäftigt hat, ist auf jeden Fall beachtlich. Gleiches gilt für die spannenden Frauenfiguren, die er in Benedetta versammelt und die alle – auf ihre Weise – selbstbestimmt ihr Leben leben. Nicht zu vergessen zu einer Zeit, in der dies nicht üblich war.
Auch sein Spiel mit der Dualität ist spannend, Wahrheit und Lüge, Schein und Sein, Gott und der Teufel, das Fleisch und der Geist, die Kritik und die Faszination – alles scheint bei Verhoeven koexistieren zu müssen und bedarf am Ende keiner abschließenden Antwort. Es gibt kein Richtig oder Falsch. Dafür viele Zweifel, in dessen Zentrum stets das Bedürfnis steht, an etwas glauben zu können, auserwählt zu sein und nach der eigenen Fasson lieben zu dürfen.
Benedetta, F/ NL 2021, Regie: Paul Verhoeven, Buch: David Birke/ Paul Verhoeven, 131 Min., Kinostart: 2. Dezember
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