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Kino-Tipp "Der Boden unter den Füßen": Rollkoffer, Excel-Tabellen und Nervenzusammenbruch

Das durchgetaktete Leben einer lesbischen Unternehmensberaterin gerät aus dem Rhythmus, als sich ihre psychisch kranke Schwester in ihren Alltag drängt. Marie Kreutzers intensives Drama über Leistungsdruck und Kontrollverlust startet morgen im Kino.

Lola (Valerie Pachner, r.) und Elise (Mavie Hörbiger)

Von Karin Schupp

15.5.2019 - Auf der Liste der unsympathischsten Berufe stehen die UnternehmensberaterInnen sicherlich weit oben: Glatte Schnösel in Anzug und Krawatte oder Businesskostüm und Highheels, die Zahlenkolonnen in Excel-Tabellen zusammentragen, nur um dann eiskalt Arbeitsplätze zusammenzustreichen und damit ihren Auftraggebern noch mehr Profit verschaffen.

Lola (Valerie Pachner) ist ein Paradebeispiel ihrer Branche: Seit Wochen pendelt sie zwischen ihrer Heimatstadt Wien und ihrem derzeitigen Einsatzort Rostock hin und her, eilig stöckelt sie mit ihrem Rollkoffer durch Flughäfen, Büro-Etagen und Hotelflure. Nur noch ein paar „Forty-Eighter“ – 48-Stunden-Schichten ohne Schlaf -, bis das Projekt abgeschlossen ist und eine Beförderung winkt.

Nur beim Sex mit ihrer Loverin lässt sie ein bisschen los

Ihre wenige Freizeit verbringt Lola im Fitnessraum und mit Jogging, die einzigen Momente, in denen sie ein bisschen loslässt, sind die versteckten Küsse und Schäferstündchen im Hotelzimmer mit ihrer Loverin Elise (Mavie Hörbiger). Doch auch ihr gegenüber sollte sie besser keine Schwäche zeigen, denn Elise ist Lolas Chefin und drückt eher noch mehr auf die Tube.

Lolas durchgetaktetes Leben gerät aus dem Rhythmus, als ihre ältere Halbschwester Conny (Pia Hierzegger) nach einem Suizidversuch in der Psychiatrie landet. Bisher hat Lola die Existenz ihrer einzigen noch lebenden Verwandten, die schon lange psychisch erkrankt ist, verschwiegen, auch Elise gegenüber.

"Die Angst, nicht genug zu sein, nicht genug zu geben"

Doch jetzt drängt sich Conny immer fordernder in ihren Alltag und bringt ihre durch und durch rationale Schwester mit ihren irrationalen Ausbrüchen aus dem Konzept. Aber sind Connys ständige Anrufe überhaupt echt? Oder finden sie nur in Lolas Kopf statt? Steuert Lola etwa gerade selbst auf einen Zusammenbruch zu?

Auch wenn es in diesen Szenen so wirkt: Der Boden unter den Füßen ist kein Psychothriller, und wie es um Lola wirklich steht, lässt der Film bewusst offen. Sie wolle nichts erklären, sondern vom „Funktionieren müssen“ und Kontrollverlust erzählen, sagte die österreichische Regisseurin Marie Kreutzer nach der Premiere auf der Berlinale 2019. „Die Angst, nicht genug zu sein, nicht genug zu geben, es nie richtig zu machen.“ Und überhaupt: „Woher wissen wir so genau, ob unsere Wahrnehmung die richtige ist?“

Es ist nicht einfach, an den Charakteren anzudocken

Kreutzer recherchierte vorab intensiv – ihre Tante war psychisch krank (von ihr stammt das im Film rezitierte Gedicht), ihre Stiefschwester ist Unternehmensberaterin, und Branchenkennerinnen checkten den Berufsjargon in den Dialogen nach Authentizität -, und doch kamen am Ende nur Bilder einer kühlen und harten Businesswelt raus, wie wir sie schon aus anderen Filmen kennen. Traurig, aber wahr: Die vermeintlichen Klischees sind wohl gar nicht so weit von der Wirklichkeit entfernt.

Das macht es jedoch nicht einfach, an den Charakteren anzudocken, weder an der einsamen Karrierefrau Lola, deren Beruf genauso ein Gefängnis ist wie die geschlossene Psychiatrie, noch an Elise oder Conny (ganz zu schweigen von den männlichen Nebenfiguren, die ihren Vorteil qua Penis – im wahrsten Sinne des Wortes - gerne raushängen lassen).

Und auch die Affäre zwischen den zwei Frauen, als deren „Happy End“ ein gemeinsames Großprojekt in Australien winkt, zaubert einem nicht gerade romantische Glitzerherzchen in die Augen. Von einem Ausbruch aus ihrem streng gerasterten Koordinatensystem scheinen Lola und Elise nicht mal zu träumen.

Überzeugendes Spiel der Darstellerinnen

Der Boden unter den Füßen erzählt ruhig und erhöht die Spannung nur langsam, ohne sich aber - wie es klassische Drehbücher erzählt hätten – in einer lebensverändernden Explosion zu entladen. Was wohl eher der Realität entspricht als ein dramatisches oder idealistisches Hollywood-Ende, die Kino-Erwartungen aber ein wenig enttäuscht. Und doch hinterlässt der Film mehr Eindruck, als man nach dem Abspann vielleicht noch achselzuckend glaubt.

Zu verdanken ist das vor allem dem präzisen Drehbuch und dem intensiven und überzeugenden Spiel der Darstellerinnen, allen voran Valerie Pachner (bald in der ZDF-Serie Die neue Zeit zu sehen), die auf der Berlinale-Pressekonferenz erzählte, dass sie abends nach dem Drehtag erst einmal die Anspannung ihrer Figur abschütteln musste. „Ich habe mir immer gewünscht: Würde sie doch mal loslassen und sagen: Ich kann nicht mehr. Und würde sie dann diese Schwäche bei sich selber annehmen, dann würde zumindest der Anfang gesetzt, dass es besser werden könnte.“

Und das ist ein Appell, den wir uns – die wir ja alle in einer Gesellschaft leben, die Leistung und Selbstoptimierung fordert – alle einmal zu Herzen nehmen sollten.

Der Boden unter den Füßen (Österreich 2019), Buch/ Regie: Marie Kreutzer, mit Valerie Pachner, Pia Hierzegger, Mavie Hörbiger u.a., 108 Min., Kinostart: 16. Mai (aktuelle Spielzeiten und -orte stehen hier)

 

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