Kinotipp: „Kokon“ – Mädchen und Schmetterlinge statt Kalorienzählen und Jungs
In einem heißen Sommer in Kreuzberg traut sich Nora endlich zu machen, was sie will: nachts im Freibad schwimmen, ihre Haare abschneiden und ein Mädchen zu küssen. Der Coming-of-Age-Film „Kokon“ von Leonie Krippendorff läuft jetzt im Kino.
Von Paula Lochte
12.8.2020 - Sportunterricht der zehnten Klassen. Die Aufgabe: Einmal über den Schwebebalken balancieren. „Ich mach das nicht, diese Übung sieht schwul aus“, grölt einer der Halbstarken. Abseits von allen anderen sitzt die schüchterne Nora (Lena Urzendowsky) und umklammert ihre gebrochene Hand. Der Gipsverband ist der Grund, warum sie nicht mit auf Klassenfahrt fahren konnte und stattdessen in die Klasse ihrer zwei Jahre älteren Schwester gesteckt wurde.
Die Sportlehrerin duldet keine Ausnahmen. „Komm, Nora, du auch“, sagt sie. „Ich halte dich fest, dann kann dir nichts passieren.“ Sie irrt sich. Als die zierliche 14-Jährige auf dem Balken vorsichtig einen Schritt vor den anderen setzt, fängt das Getuschel an. Ausgerechnet in diesem Moment hat sie zum ersten Mal ihre Tage bekommen. Auf ihrer Hose prangt für alle gut sichtbar ein Blutfleck.
Sie blickt Nora lang in die Augen... und Nora ist verknallt
Auf der Toilette tupft Nora, den Tränen nahe, mit Klopapier in ihrer Unterhose herum. Dann klopft es. „Gib mal deine Hose, ich wasch’ die aus“, sagt Romy (Jella Haase). Sie ist die coole Neue, trägt ein Band-T-Shirt und versteckt in ihrem BH einen Joint. Sie blickt Nora lang in die Augen und hängt ihre Jeans zum Trocknen aus dem Klofenster. Nora ist verknallt.
Es ist nicht das erste Mal, dass sie merkt, dass sie „Mädchen manchmal so schön findet“; auch wenn ihre Sexualkundelehrerin das als „Phase“ abtut. Beim Masturbieren denkt sie an die beste Freundin ihrer Schwester. Oder eben an Romy. Mit ihr kann sie reden, anders als mit ihrer Schwester (die sich mehr für Kalorien und Jungs interessiert) und mit ihrer Mutter (die zwar feministisch, aber leider meist betrunken ist).
Mit - und durch - Romy wird Nora mutiger. Sie schneidet sich die Haare ab, schleicht nachts zum Nacktbaden ins Freibad, sagt, was sie fühlt und was sie will. Ihre Gedanken verarbeitet sie in mal poetischen, mal pathetischen Instagram-Videos, die den Film durchziehen.
Die Raupe, aus der ein Schmetterling wird
Überhaupt sieht Kokon, der nach der lesbischen Dreiecksgeschichte Looping (2016, ebenfalls mit Jella Haase) Leonie Krippendorffs zweiter Spielfilm ist, so aus, als hätte die Regisseurin und Drehbuchautorin einen Instagram-Filter über alle Szenen gelegt. Das wirkt bemüht jugendlich, ebenso wie die Sprache und Gesten der Jugendlichen: Sie beschimpfen sich als „Bitch“ oder „Schwuchtel“, rauchen Shisha, kiffen und rappen bei jeder Gelegenheit – ist das noch Kreuzberg oder schon peinliches Klischee?
Allzu vorhersehbar ist auch die Metapher, die über allem steht: der titelgebende „Kokon“, die Raupe, aus der ein Schmetterling wird, als Sinnbild für eine junge Frau, die sie sich selbst findet. Andererseits ist es auch rührend, wenn sich die Hauptfigur Nora im Nachthemd eine Taschenlampe um den Kopf schnallt, um unter dem Bett eine ihrer entlaufenen Raupen, die sie in Konservengläsern aufzieht, zu suchen. Oder wenn sie strahlt, als aus einer von ihnen ein riesiger Falter geworden ist, der sich auf ihren Bademantel setzt.
Erste große Liebe ohne tragisches Drama und zuckersüßem Kitsch
Vielleicht ist es das, was den Film ausmacht. Kokon hat zwar seine Längen, und er ist ein klassischer Coming-of-Age-Film mit oft gesehenen Zutaten: ein flirrend heißer Sommer, nächtliche Einbrüche ins Freibad, die introvertierte Außenseiterin, die coole Neue mit dem Kurzhaarschnitt. Aber dazwischen verstecken sich Szenen, von denen es bisher nicht genug in Jugendfilmen gibt.
Die erste Periode zum Beispiel, die sonst „ästhetisch mit so einem kleinen Fleckchen im Slip dargestellt wird“, wie Krippendorff dem Radiosender Deutschlandfunk Kultur sagte, obwohl sich die Menstruation eigentlich ganz anders anfühle. Oder die erste große Liebe, die vielleicht märchenhaft schön ist – aber nicht unbedingt wie im Märchen endet. Denn, so viel sei verraten, so klassisch Kokon ist, der Film endet weder tragisch-dramatisch noch mit einem zuckersüßen Happy End.
Kokon (Deutschland 2020); Regie und Drehbuch: Leonie Krippendorff; mit Lena Urzendowsky, Jella Haase, Lena Klenke u. a.; 94 Minuten; aktuell in der queerfilmnacht (noch in 19 Städten) und ab 13. August hier im Kino
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