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Kommentar zum Sterbehilfe-Urteil: Lasst uns in Würde sterben!

Aktive Sterbehilfe ist künftig erlaubt - das entschied das Bundesverfassungsgericht letzte Woche. Eine L-MAG-Redakteurin berichtet über ihre persönliche Erfahrung mit unterlassener Sterbehilfe und fordert würdevolles Sterben statt Leben um jeden Preis.

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dm - 2.3.2020

Liebe Kirchen, lieber Kardinal Reinhard Marx und lieber Landesbischof Dr. Heinrich Bedford-Strohm*,

„Die Würde des Menschen ist unantastbar“, so klar und deutlich lautet der erste Grundsatz unserer Verfassung. Welchen Wert hat diese Würde für euch am Ende des Lebens? Der Urteilsspruch des Bundesverfassungsgericht zur Sterbehilfe bezieht sich auf eben diese Würde sowie auf die „freie Entfaltung der Persönlichkeit“ (Artikel 2 des Grundgesetzes). Am 26. Februar wurde in Karlsruhe das längst überfällige Urteil gefällt: „Das allgemeine Persönlichkeitsrecht (Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG) umfasst als Ausdruck persönlicher Autonomie ein Recht auf selbstbestimmtes Sterben.“

Geklagt hatten schwerkranke Personen, die ihr Leben „mit geschäftsmäßig angebotener Unterstützung Dritter“ selbst beenden wollen, Vereine (die eine Unterstützung der Sterbehilfe anbieten) und Ärzte (die in der stationären Patientenversorgung tätig sind), sowie beratende Rechtsanwälte.

Der §217 des Strafgesetzbuches verbietet seit Dezember 2015 die „Geschäftsmäßige Förderung der Selbsttötung“ und belegt sie mit bis zu drei Jahren Freiheitsstrafe. Entscheidend ist der Begriff „geschäftsmäßig“, der eben Ärzte, beratende Vereine und Rechtsanwälte trifft.

Straffrei blieben laut Gesetz Angehörige und nahestehende Personen, die dies nicht wiederholt betreiben. Das wirkt auf den ersten Blick plausibel, birgt aber unmögliche Einschränkungen. Denn so dürfen Angehörige zwar einem schwerkranken Menschen mit Wunsch zu sterben, theoretisch helfen, praktisch fehlen Privatpersonen jedoch die medizinischen Mittel.

Denn wie genau kann eine Sterbehilfe für einen Menschen aussehen, der zwar leidet, sich selbst nicht töten kann und nicht künstlich am Leben gehalten wird? Wie könnte ich ohne ärztliche, beratende oder rechtliche Unterstützung helfen? Und genau da setzt das bahnbrechende Urteil an.

Wenn der Vater ins Wachkoma fällt

Ich habe mich jahrelang mit der Frage befasst. Lange wetterte ich ebenso wie ihr gegen eine staatliche Freigabe. Zu sehr klang es für mich nach Euthanasie und Vernichtung unbeliebter Gruppen. Nach jahrelangen Ringen, sehe ich nun die Sterbehilfe ganz klar als ein Mittel „die Würde des Menschen“ bis zuletzt zu erhalten.

Mein Vater erlitt vor vielen Jahren auf Grund eines geplatzten Aneurysmas eine Gehirnblutung. Die behandelnden Ärzte erklärten uns damals, dass eine komplizierte Operation meinen Vater eventuell retten könne, da das Gehirn aber so komplex sei und durch die Blutung bereits Schäden entstanden sind, könne man das Ergebnis nicht konkret vorhersagen. Die Möglichkeiten reichten vom Tod direkt bei der OP, über bleibende Schwerbehinderung, bis hin zur fast vollständigen Genesung. Klar war nur, wenn er nicht operiert wird, sterbe er binnen weniger Tage.

Also beschlossen wir (da er sich bereits im Koma befand und nicht selbst entscheiden konnte), einzuwilligen. Ein Spezialist aus Paris wurde eingeflogen, operierte, verschwand. Ein ortsansässiger junger Arzt blieb und teilte uns mit, man müsse jetzt abwarten. Die Operation sei gut verlaufen, mein Vater war im künstlichen Koma. Nach ein paar Tagen werde das medizinisch induzierte Koma aufgehoben, erst dann könne man feststellen, welche Schäden entstanden seien und wie weit diese therapierbar sind.

Das kinoreife Szenario des plötzlichen Erwachens blieb aus

Die Wochen verstrichen und das kinoreife Szenario des plötzlichen Erwachens blieb aus. Dennoch machte er langsam Fortschritte, die ersten Bewegungen der Finger, dann Arme, Beine, das erste Sitzen im Rollstuhl und schließlich das absolute Highlight: die ersten Töne dank einer speziellen Trachealkanüle, mit der er trotz Luftröhrenschnitt erste Laute von sich geben konnte. Wenn wir ihn ansprachen reagierte er. Einmal stritten mein Bruder und ich uns heftig, mein Vater weinte.

Der junge, engagierte Arzt schrieb fleißig Berichte an die Krankenkasse, die langsam drängelte – die Kosten! Ein so langer Aufenthalt ist im Krankenkassensystem nicht vorgesehen. Obwohl der zuständige Arzt versuchte, möglichst große Fortschritte zu melden, half alles nix und mein Vater musste – verdonnert von der Krankenkasse (vielen Dank DAK!) - ins Pflegeheim. Die intensive Nachsorge von täglicher Logopädie und mehrmals am Tag Physiotherapie fielen damit aus.

Trotz jahrelangen Versuchen, der Krankenkasse eine Reha und weitere Spezialtherapien aus den Rippen zu leiern, hieß es immer: Pflegestufe 4, Härtefall, nicht therapierbar. Also siechte er dahin. Pflegeheime sind eben, wie der Name schon verrät, zur Pflege da, dort wird der gesundheitliche Zustand so gut es geht erhalten und nicht aufgebaut. Und so verschwand die spezielle Trachialküle wieder (wegen der Kosten, hieß es erneut von der Krankenkasse).

Was er mitbekam? Ich weiß es nicht

Was uns blieb, war die Kommunikation über Augen. Im Krankenhaus hatte er gelernt: einmal blinzeln heißt Ja, zweimal Nein. Ganze 9 Jahre verbrachte mein Vater in diesem Zustand! 9 Jahre lag er regungslos im Bett, wurde gewaschen, ab und an in einen Spezialrollstuhl gesetzt und in den Garten gefahren. Tagein, tagaus. Die Pflegekräfte kümmerten sich rührend, doch am Ende waren ihnen die Hände gebunden.

Was er mitbekam? Ich weiß es nicht. Lag hinter dem blinzelnden Mann noch der einst liebende Vater? Ich hatte in der Zeit des Wachkomas mein Coming Out und habe es in einem Akt der letzten Verzweiflung meinem liegenden Vater ganz bewusst an den Kopf geworfen, in der heimlichen Hoffnung er würde vor Schreck erwachen und schockiert rufen: „Was?? Du bist lesbisch?“

In Wahrheit hätte es ihn wohl gar nicht so sehr verwundert. Er hätte wahrscheinlich jede meiner Freundinnen auf ein Bier eingeladen und gecheckt, ob sie mir auch wirklich gut tut oder mich bei jeder unpassenden Gelegenheit gefragt, ob die nette Frau vom Nachbartisch nicht was für mich wäre, die sei zumindest eine „gute Partie“.

Endlich sterben – Sterbehilfe aus der Schweiz

Jahrelang wollte ich aus Liebe zu ihm sein Leiden beenden. Nur wie? Sein gesundheitlicher Zustand war stabil, wenn auch bewegungslos. Er wurde nicht künstlich beatmet, nur künstlich ernährt. Theoretisch hätte ich ihn verhungern lassen können. Aber konnte ich ihm das antun, einfach den Tropf abschalten? Nach 9 Jahren hielt ich es nicht mehr aus und schrieb eine E-Mail an einen Schweizer Arzt, der Sterbehilfe leistete.

Er antwortet prompt: Er könne nichts machen, da er zwar deutsche Patienten grundsätzlich annimmt, aber nur wenn sie aus eigener Kraft zu ihm kommen. In der Schweiz ist Sterbehilfe generell (und damit auch für Ärzte) nur bei „selbstsüchtigen Beweggründen“ verboten. Das öffnet das Tor zu selbstloser Sterbebegleitung und verschließt es vor gefährlichem Missbrauch (worauf sich auch das BVerfG-Urteil bezieht).

Doch der Schweizer-Experte gab mir nach all den Jahren einen simplen Tipp. Bei der nächsten Lungenentzündung – die er regelmäßig im Winter bekam – können wir einfach die Antibiotika verweigern, um ihn endlich von seinem Leid zu befreien. Danke, das hat geholfen. Nur hatte mir bis dahin das noch nie jemand gesteckt, denn das deutsche Gesundheitssystem und die moderne Medizin ist darauf ausgerichtet, leben zu erhalten – egal um welchen Preis.

Andere Länder mit sinnvoller Gesetzgebung

Lieber Kardinal Reinhard Marx und lieber Landesbischof Dr. Heinrich Bedford-Strohm, dass ihr „mit großer Sorge“ das Urteil zur Kenntnis genommen habt, überrascht mich kaum. Den zwanghaften Wunsch nach Leben, auf Kosten der Würde oder der freien Entfaltung der Persönlichkeit hat die katholische Kirche für mich schon in der Abtreibungsfrage jahrelang unter Beweis gestellt. Und auch für die Evangelische Kirche hört die propagierte Nächstenliebe mitunter bei uns Homos auf.

Nun verschließt ihr Köpfe der Kirchen halt die Augen vor dem medizinischem Fortschritt und der Qual vieler Menschen am Lebensende, die die moderne Medizin mit sich bringt. Eure Angst „die Zulassung organisierter Angebote der Selbsttötung“ würde „alte oder kranke Menschen auf subtile Weise unter Druck setzen“ kann durch sinnvolle gesetzliche Regelungen verbannt werden.

Schweiz, Niederlande, Kanada und Oregon zeigen bereits, wie eine sinnvolle Gesetzgebung aussehen kann. Auf genau diese bezieht sich im Übrigen das Urteil. Es geht nicht darum, zukünftig organisierte Selbsttötung zur „akzeptierten Normalität“ werden zu lassen. Die moderne Medizin schafft es jeden Tag, unzählige Leben zu retten, aber sie ist auch dafür verantwortlich, den Tod künstlich hinauszuzögern, und vergisst dabei mitunter die unantastbare Würde des Menschen.

Hätte ich meinen Vater am Anfang einfach sterben lassen, hätte ich ihm neun Jahre Wachkoma erspart. Was haben ihm diese vielen Jahre gebracht? Er lag fast ein ganzes Jahrzehnt weitestgehend regungslos im Bett. Ist das ein würdiges Leben? Liebe Kirchenoberhäupter, ist es wirklich das, was euer Gott will? Versteht ihr das unter Nächstenliebe? Für mich fußt das „ethische Fundament unserer Gesellschaft“, wie ihr es so schön nennt, auf dem Grundgesetz und allem voran der Würde des Menschen und nicht auf eurer blasierten Moral. Also: Lasst uns doch bitte in Würde sterben!

* Kardinal Reinhard Marx ist der Vorsitzende der Deutschen Bischofskonferenz), Landesbischof Dr. Heinrich Bedford-Strohm ist der Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche in Deutschland

 

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