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Neue Serie „Becoming Charlie“: Nicht-binäres Coming Out im Plattenbau

Die neue ZDFneo-Serie „Becoming Charlie“ (ab 20. Mai), hinter der unter anderem die queere Filmemacherin Kerstin Polte steht, erzählt von der Selbstfindung einer nicht-binären Hauptfigur, gespielt von Lea Drinda. L-MAG hat mit den beiden gesprochen.

Tatiana Vdovenko/ ZDF Charlie (Lea Drinda): Wer bin ich? Eine Frau? Ein Mann? Oder kann ich auch meinen ganz eigenen Weg gehen?

Von Paula Lochte

19.5.2022 - Charlie (Lea Drinda) wohnt in einem Plattenbau in Offenbach und mag Rap, heimliche Küsse mit der besten Freundin und wenn Mutter Rowena (Bärbel Schwarz) gerade eine gute Phase hat – also weder im Kaufrausch das ganze Geld ausgibt noch depressiv im Bett liegt. Aber gerade scheint alles schief zu gehen. Alina (Aiken-Stretje Andresen) will nicht mehr küssen, sie ist jetzt schwanger vom Obermacker. Die Mutter hat so viele Schulden angehäuft, dass es in der gemeinsamen Wohnung kein Licht, warmes Wasser oder Essen im Kühlschrank mehr gibt. Und auf die Fragen, die Charlie in ein Notizheft schreibt, finden sich nur schwer Antworten: Wer bin ich? Eine Frau? Ein Mann? Oder kann ich auch meinen ganz eigenen Weg gehen?

In sechs 15-minütigen Folgen erzählt die neue ZDFneo-Serie Becoming Charlie eine klassische Coming-of-Age-Geschichte – aber aus einer Perspektive, wie sie im deutschen Film und Fernsehen bisher kaum zu sehen war: durch die Augen einer nicht-binären Hauptfigur, gespielt von Lea Drinda. Hinter der Serie steckt unter anderem die queere Filmemacherin Kerstin Polte. L-MAG hat mit den beiden gesprochen.

Tatiana Vdovenko/ ZDF Bei Tante Fabia (Katja Bürkle, r.) und deren Frau Maya (Dalila Abdallah, l.) findet Charlie ein Stück Normalität

L-MAG: Lea, viele kennen dich als Babsi aus der Amazon-Neuauflage von Wir Kinder vom Bahnhof Zoo, nun spielst du Charlie in Becoming Charlie. Was hat dich an der Rolle gereizt?

Lea Drinda: Als ich die Einladung zum Casting bekam, war das für mich ein Moment der Befreiung und Euphorie. Bisher habe ich immer weiblich gelesene Filmfiguren gespielt – aber aus diesem Schema auszubrechen, war schon länger ein Wunsch, den ich in mir getragen habe. Als mir dann meine Agentur die Anfrage für Charlie weitergeleitet hat, mit der Frage, „Bist du interessiert?“, war meine Antwort gleich klar: „Ja!“ Eine aufregende Tramfahrt später war ich im Castingstudio. Da habe ich dann die Köpfe hinter der Serie, Lion H. Lau, Greta Benkelmann und Kerstin Polte, kennengelernt. Es hat sich nicht wie jedes andere Casting angefühlt, sondern wurde ganz schnell persönlich. Zum ersten Mal in meiner Filmlaufbahn konnte ich mich auf diese Weise öffnen: Grenzen aufbrechen, die mir davor gesetzt wurden und die ich mir selbst gesetzt hatte, und diese tiefsitzenden Gefühle in mir aussprechen.

Kerstin, du hast Becoming Charlie mitentwickelt und bei mehreren Folgen Regie geführt. Was hat dich zu dieser Geschichte gebracht?

Kerstin Polte: Meine Uridee war es, in einer Serie eine Hauptfigur jenseits des binären Spektrums zu erzählen. Und wir wollten endlich mal queeres Leben außerhalb der Mittel- und Oberschicht zeigen.

Philip Jestädt/ ZDF Ronja (Sira Anna Faal, „Druck“, r.) gibt Charlie Support - und eine Lovestory gibt's auch

Becoming Charlie spielt nicht in Berlin, sondern im hessischen Städtchen Offenbach, irgendwo zwischen Sozialwohnungen und Muckibuden.

Kerstin Polte: Die Geschichte haben wir dann zu dritt entwickelt. Lion H. Lau identifiziert sich als nicht-binär, Greta Benkelmann kennt sich im Milieu aus, wir haben uns toll ergänzt und gegenseitig inspiriert. Mit geballter Energie ging es dann ganz schnell: Im Oktober hatten wir die ersten Entwürfe, im Januar haben wir gedreht. Für den Dreh hatten wir nur zwölf Tage und kaum Budget. Das war wahnsinnig anstrengend. Funktioniert hat das nur, weil wir als Team so leidenschaftlich dafür gekämpft haben, dass es so eine Serie endlich gibt. Ich glaube, in den Bildern spürt man unsere geballte Liebe für das Projekt.

Was ist denn eure Lieblingsszene?

Lea Drinda: Für mich sind es all diese kleinen, unangenehmen, lustigen, verwirrten Momente, wo man sich mit Charlie fremdschämt, fremdfreut, fremdverliebt. Das Herz rast mit und man ist selbst auch außer Atem, wenn Charlie wieder verpennt hat und irgendwohin hetzt und nochmal radelt oder rennt. Einerseits denkt man sich: „Mensch Charlie, das kann doch nicht wahr sein“ – und andererseits: „Komm, ich will dich in den Arm nehmen, alles wird gut.“

Kerstin Polte: In Folge 3 gibt es so einen kleinen Dialog zwischen Charlie und der Mutter am Kühlschrank, da hatte ich schon beim Drehen Tränen in den Augen. Da gibt es so eine Zartheit und Zärtlichkeit zwischen den beiden. Gleichzeitig ist klar, sie können nicht beieinanderbleiben. Und ich liebe die Bad-Szene.

Tatiana Vdovenko/ ZDF Kerstin Polte: „Wie Lea das macht und einfängt, das hat mich schon beim Dreh verzaubert“

In der Szene steht Charlie vor dem Spiegel und malt sich mit Kajal einen Bart auf – und trägt dazu bunten Lidschatten, Wimperntusche und ein verschmitztes Lächeln.

Kerstin Polte: Wie Lea das macht und einfängt, das hat mich schon beim Dreh verzaubert. Im Schnitt haben wir die Szene erstmal ohne Ton geschnitten, und schon da habe ich gespürt: Durch Leas feines, durchlässiges Spiel geht ein riesiger Möglichkeits- und Fantasieraum auf.

Von Sex Education bis zur Fortsetzung von Sex and the City: nicht-binäre Figuren gibt es immer häufiger. Aber sie spielen bisher selten die Hauptrolle, zumal im deutschen Fernsehen. Die Jugendserie DRUCK dreht sich zwar in der siebten Staffel um die nicht-binäre Figur Isi – aber ansonsten ist das ein ziemliches Brachland, oder?

Kerstin Polte: Ja, und zwar auch, was das Hinterfragen von Geschlechterrollen überhaupt angeht. Wir bräuchten in allen Formaten Figuren, die diesen binären Mann-Frau-Blödsinn aufbrechen – vom Tatort bis zur Castingshow. Letztens habe ich mit meiner Tochter Germany’s Next Topmodel geguckt und da sollten die Teilnehmerinnen bei einem Fotoshooting einem Roboter zeigen, was Weiblichkeit ist. Ich dachte: „Lasst doch bitte den armen Roboter mit dem Gender-Quatsch in Ruhe!“ Und das sieht man leider überall, es fällt nur nicht auf, weil wir diese Rollenklischees von „Weiblichkeit“ und „Männlichkeit“ so verinnerlicht haben. Dabei gibt es heute immer mehr Menschen, die sich jenseits des binären Spektrums identifizieren. Unsere Welt ist längst voll von Charlies, in allen Schichten, es fehlen aber die Bilder, Vorbilder und Geschichten, in denen sie sich wiederfinden können.

Lea Drinda: Dass nun Charlie einen Platz gefunden hat in der deutschen Filmwelt, ist für mich persönlich so ein erfüllender, schöner Schritt! Es macht mich glücklich, zu wissen: Charlie existiert jetzt.

Becoming Charlie, von Kerstin Polte, Lion H. Lau und Greta Benkelmann, mit Lea Drinda, Bärbel Schwarz, Katja Bürkle, Dalila Abdallah, Sira Anna Faal, Danilo Kamperidis u. a., ab 20. Mai  in der ZDF-Mediathek, ZDFneo, 24. Mai (20:15 Uhr): alle 6 Folgen 

 

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