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Onlinearchiv „anderkawer“: Lesbische Mütter in den letzten 100 Jahren

Seit heute online: Das Archiv „anderkawer“ der Künstlerin annette hollywood beschäftigt sich mit der Situation lesbischer Mütter der letzten 100 Jahre und lädt ein, sich durch Videos mit historischem Material wie Polizeiakten, Fotos und Briefe zu klicken.

annette hollywood/ VG Bildkunst annette hollywood führt als „Detektivin“ selbst durch ihr Archiv

Von Anette Stührmann

15.11.2022 - Die Videokünstlerin annette hollywood, die ihren künstlerischen Namen immer kleinschreibt, ging heute mit ihrem Onlinearchiv [anderkawer] an den Start. Das Langzeitprojekt beschäftigt sich mit der Situation lesbischer Mütter im Spiegel der Zeiten, vor allem auch politischer und sozialer Entwicklungen, ist aber auch biographisch von den Erfahrungen einzelner Frauen/ Lesben bestimmt, die zum Beispiel in der Vergangenheit ins Visier der Behörden gerieten. Aber auch die persönliche Situation der Künstlerin, die 2019 selbst Mutter wurde und sich mit ungewohnten Vorurteilen und Realitäten konfrontiert sah, hatte Anteil an der Umsetzung des Themas.

Der Anfang des Projekts wird von den 1920ern in Berlin, von Freiheitsbestrebungen wie Feminismus und homosexueller Bewegung geprägt. Lesbische Frauen gibt es in diesem Jahrzehnt in sichtbarer Realität, die sich heute noch im Archivmaterial in Form von Fotos, Plakaten und Medien -- zum Beispiel in der Zeitschrift „Frauenliebe“, die in den Jahren 1926 bis 1930 in Berlin erschien - wiederfindet.

Verfolgung, Denunziation, Untertauchen

Es folgen die 1930er und 1940er Jahre, die von Verfolgung, Denunziation, Drangsalierung und Untertauchen bestimmt sind und im Archiv mit Fällen, die auf Polizeiakten von 1936 und 1942 basieren, veranschaulicht werden. Mit den 1950ern und der Frage, wie und wo lesbische Mütter in den Nachkriegsjahren überhaupt (medial) vorkommen, wird es demnächst weitergehen, ebenso wie mit einem Ausblick in die 1970er und 80er Jahre.

Das Archiv soll, wenn es fertig ist, insgesamt 100 Jahre lesbisch-queere Geschichtsaufarbeitung umfassen und natürlich auch die Situation und Präsenz oder Nichtpräsenz lesbischer Mütter in der DDR und die neue Situation seit 2017 mit Einführung der „Ehe für alle“ einbeziehen, die auch ein gleichberechtigtes Sorgerecht für zwei Mütter als Eltern möglich macht. „An dem Projekt werde ich mindestens noch ein Jahr, vielleicht aber auch noch mehrere Jahre arbeiten“, sagte uns die Künstlerin.

Die Unsichtbarkeit und Sichtbarwerdung lesbischer Mütter

Mithilfe einer von der Künstlerin selbst verkörperten Detektivin, die auch durch das Programm führt, lässt sich durch das Archiv klicken und vieles entdecken. Anhand von Videoinstallationen, historischen Archivfotos, Dokumenten, Zeitungscovern, Ermittlungsakten, die auch persönliche Korrespondenz und Fotos aus dem Leben und der Familien der Frauen beinhalten, sowie Verhörprotokollen, die teilweise eingesprochen wurden, kann sich die Archivbesucher:in ein Bild von den historischen Zuständen rund um die Situation von nicht-heteronormativen Familien und damit verbundenen Ideologien von Familie und Mutterschaft des vergangenen Jahrhunderts in Deutschland machen.

Intention des Archivs, das auch als eine Art Online-Ausstellung dient, ist, „die Unsichtbarkeit sowie Sichtbarwerdung insbesondere lesbischer Mütter zu visualisieren.“ hollywood betont, dass es tatsächlich eines hartnäckigen investigativen Spürsinns bedarf - ausgedehnte Archivsuche (zum Beispiel im Berliner Lesbenarchiv, im Landesarchiv oder dem Archiv der Robert-Havemann-Gesellschaft), Bibliotheksrecherche, Befragung von Historiker:innen, Zeitschriftenlektüre (z.B. Hefte im Selbstverlag in der DDR, „Frau anders“, Jena, 1989-1993, „Wir Freundinnen“, 1951 bis 1952 in Hamburg) inbegriffen -, um an die nötigen Informationen und Belege zu kommen.

Das stetig wachsende Archiv will zum Nachspüren einladen

Denn insbesondere lesbische Mütter seien bis in die 1980er Jahre oft im Verborgenen geblieben, da ihnen zum Beispiel bei einer Ehescheidung der Sorgerechtsentzug gedroht habe. Aber die hartnäckige Recherche habe sich gelohnt: „Fundstücke wie Zeitschriften und Akten erzählen von Unsichtbarkeit, gesellschaftlichen Diskussionen und heutiger allmählicher Akzeptanz queerer Familien und machen die Verwendung von Sprache, ihre Zuschreibung und Wirkmacht im jeweiligen gesellschaftlichen Klima erfahrbar“, so die Künstlerin gegenüber L-MAG.

Und so lade das stetig wachsende Onlinearchiv zum Nachspüren für alle ein: „anderkawer ist selbstermächtigende Geschichtsschreibung und macht Wissen über nicht heteronormative Familienformen zugänglich“.

Hier geht’s zum Onlinearchiv [anderkawer]

 

Veranstaltungen rund um das [anderkawer]-Projekt in Berlin:

Ausstellung „Die Decke hat ein Loch“ (mit Jana Müller und Moira Zoitl), 17. Nov. 2022 - 29. Jan. 2023, Kunstverein am Rosa-Luxemburg-Platz, Berlin

Vorstellung des Onlinearchivs, 10. Dez. 2022, 15 Uhr, im Kunstverein am Rosa-Luxemburg-Platz, Berlin

Filmvorführung mit Gespräch, 19. Jan. 2023, 19 Uhr, Spinnboden Lesbenarchiv, Berlin (in Kooperation mit dem Regenbogenfamilienzentrum)

Weitere Infos und Termine unter www.annettehollywood.com

 

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