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Queer-feministisches Hausprojekt in Berlin geräumt

In Berlin-Friedrichshain wurde gestern das Hausprojekt „Liebig34“ geräumt. Von Nachbar*innen, Kultur- und Kneipenszene, den Grünen und Linken bis hin zu Nobelpreisträgerin Elfriede Jelinek: Die Solidarität ist groß.

Annabelle Georgen

Von Annabelle Georgen, Jan Noll und Franziska Schultess

10.10.2020 - Lautstark, mit Sprechchören, Trommeln auf Mülltonnen und Töpfen, wurde gegen die Räumung des „anarcha-queerfeministischen“ Hausprojekts Liebig34 demonstriert. Bereits ab 2 Uhr morgens hatten sich Nachbar*innen und Demonstrant*innen im Umfeld des Hausprojektes und der Sperrzone der Polizei versammelt. Gegen 5 Uhr waren Hunderte Demonstrant*innen anwesend.

Die Räumung begann ab 7 Uhr früh. Die Bewohner*innen der Liebig34 hatten sich im Gebäude verbarrikadiert. „Wir werden dieses Haus nicht freiwillig hergeben, sondern jeden Teil unserer in Beton manifestierten Utopie verteidigen“, hatten sie im Vorfeld in ihrem Blog angekündigt.

Die Polizei setzte Sägen ein und verschaffte sich unter anderem über ein Fenster im ersten Stock Zutritt zum Haus. Die ersten Bewohner*innen wurden gegen 8 Uhr, die letzten erst kurz vor 11 Uhr aus dem Gebäude gebracht. Laut einem Polizeisprecher waren rund 1500 Beamte im Einsatz. Diese waren, mitten in der Corona-Pandemie, auch aus anderen Bundesländern angereist.

Liebig34: „Wir sind sehr wütend und traurig“

„Wir sind sehr wütend und traurig. Aber es macht mich und andere auch glücklich, diese ganze Solidarität zu sehen,“ sagte Mascha vom Kollektiv der Bewohner*innen im Gespräch mit unserem Schwestermagazin Siegessäule am Vortag der Räumung. „Es war uns immer wichtig zu sagen, Liebig34 ist nicht nur für die Menschen wichtig, die darin wohnen oder gewohnt haben, sondern es ist auch ein symbolischer Ort für die queer-feministische Szene in Berlin und international.“

Das Kollektiv der Bewohner*innen wolle auf jeden Fall in einer Form weiterbestehen und gemeinsam aktiv bleiben. „Wenn uns das Haus weggenommen wird, wird die Liebig34 trotzdem weiterleben“

Jahrelanger Rechtsstreit mit dem Eigentümer

Bereits am Dienstag hatte das Berliner Kammergericht einen Antrag des Anwalts der Bewohner*innen zurückgewiesen, der eine Aussetzung der Vollstreckung des Räumungsurteils gefordert hatte. Laut Gericht haben die Interessen des Eigentümers Vorrang vor denen der Bewohner*innen. Besondere Umstände für eine Ausnahme seien nach Prüfung des Falls nicht gegeben.

Das Projekt ging 1990 aus einer Besetzung des Gebäudes hervor. Nach dem gescheiterten Versuch, das Haus kollektiv zu kaufen, wurde 2008 ein Gewerbepachtvertrag über 10 Jahre geschlossen, der Ende 2018 auslief. Anfang Juni 2020 gab nun das Berliner Landgericht einer Räumungsklage des Eigentümers statt.

Laut Darstellung der Bewohner*innen richte sich der Räumungstitel gegen den Verein Raduga e. V., der 2008 den Pachtvertrag mit dem Eigentümer Gijora Padovicz vereinbart hatte. Mittlerweile sei Raduga e. V. jedoch gar nicht mehr in den Räumlichkeiten, sondern ein anderer Verein, Mittendrin e. V. Deshalb sei die Räumung aus Sicht der Bewohner*innen rechtswidrig.

In verschiedenen Internetforen wurden im Vorfeld heftige Proteste gegen die Räumung angekündigt. Bekannt wurden bereits in der vergangenen Woche Zerstörungen an Kabeln der S-Bahn, an einer Polizeiwache in Lichtenberg und dem Kreuzberger Amtsgericht, die in einen Zusammenhang mit der Liebig34-Räumung gebracht wurden. Neben Solidaritätsbekundungen für das Hausprojekt führten diese Aktionen ebenso zu Kritik.

Steigende Corona-Zahlen: Kritik am Zeitpunkt der Räumung

Angesichts der rapide ansteigenden Corona-Infektionszahlen in der Hauptstadt gab es im Vorfeld deutliche Kritik am Zeitpunkt der Räumung. Linke und Grüne in Berlin plädierten für eine Verschiebung der Räumungsaktion.

Nicht nur aufgrund der kaum einhaltbaren Hygieneregeln im Rahmen der Räumung unterstützte die BVV-Fraktion der Grünen einen Vorschlag zum Aufschub der Räumung bis Frühjahr 2021, „um einerseits die aufgeworfenen rechtlichen Fragen zu klären und ergänzend nochmal den Versuch zu unternehmen, mit dem Eigentümer eine tragbare Lösung zu finden.“

Offener Brief von Nachbar*innen

Einige Nachbar*innen der Liebig, darunter eine Bäckerei, eine Pizzeria, ein Tattoostudio und das Jugend(widerstands)museum, formulierten einen gemeinsamen offenen Brief, der der Siegessäule vorliegt. „Die Liebig34 ist ein Ort von Selbstbestimmung und Akzeptanz unterschiedlichster Lebensentwürfe,“ heißt es darin. „Damit hat sie eine tragende und unverzichtbare Rolle in der Ausrichtung der Stadt als gern betitelte Regenbogenhauptstadt.“ Beispiele aus der Vergangenheit hätten gezeigt, dass seitens der Stadt Berlin durchaus Handlungsmöglichkeiten zum „Erhalt alternativer und unkommerzieller Freiräume“ bestünden. So seien bereits Häuser durch die öffentliche Hand oder mit politischer Unterstützung von Stiftungen und Genossenschaften erworben und an Projekte zu günstigen Bedingungen vermietet worden.

Unterstützung äußerten am 29. September auch die Grüne Jugend Berlin und die Linksjugend Solid Berlin in einem offenen Brief an den Berliner Innensenator Andreas Geisel (SPD). „Tun Sie alles, was in ihren Kompetenzen liegt, um die Räumung am zu verhindern!“, heißt es darin. Räume wie die Liebig34 seien „essentiell für unsere Stadt.“

Initiative „Kein Haus weniger“

Alternative, nicht kommerzielle Kultur-, Wohn- und Hausprojekte haben den Charakter Berlins geprägt, genießen aktuell aber wenig Schutz. Die Initiative „Kein Haus weniger“ formulierte bereits im November 2019 einen offenen Brief zum Erhalt der Liebig 34, der Kneipen K-Fetisch, Syndikat und anderer Projekte. Unterzeichnet hatten den Appell neben Berliner Kneipen, Clubs und Kultureinrichtungen auch Einzelpersonen wie die Autorin Elfriede Jelinek, die Musikerin Nina Hagen und der Journalist Günter Wallraff.

 

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