Serientipp „Gentleman Jack“: Die Shane des 19. Jahrhunderts
Die englische Großgrundbesitzerin Anne Lister gilt als „erste moderne Lesbe“ und hatte ein reges Sexualleben. Die Serie „Gentleman Jack“ spielt das nicht herunter, beschränkt sich aber weitgehend auf ihre Liebe zu einer reichen Erbin. Ab 29. Jan. auf Sky.
Von Karin Schupp
28.1.2020 - Sie geht nicht - sie eilt mit strammem Schritt. Sie plaudert nicht - sie macht klare Ansagen. Sie trägt keine Kleider, sondern Hosen. Sie ist weitgereist, gebildet, geschäftstüchtig - und lesbisch ist sie auch noch. Und nicht zu vergessen: Sie hat ein reges Sexualleben!
Anne Lister würde heute als Powerlesbe, charmante Butch oder queere Frauenheldin gelten, im 19. Jahrhundert aber war die englische Großgrundbesitzerin ein eindeutiger Fremdkörper, und dass sie von der Leuten in ihrer Gegend „Gentleman Jack“ genannt wurde, war sicherlich kein Zeichen des Respekts.
In „The L Word: Das 19. Jahrhundert“ wäre sie Shane gewesen
Ja, Anne Lister (1791-1840) gab’s wirklich, und da sie in ihren Tagebüchern – in einer Geheimschrift – detailliert ihre zahlreichen sexuellen Eroberungen, Liebesaffären und Beziehungen schilderte, wird sie in den Geschichtsbüchern als „erste moderne Lesbe“ geführt. Man könnte auch sagen: Wenn es The L Word im 19. Jahrhundert gegeben hätte, wäre sie Shane gewesen.
Dass diese spannende historische Persönlichkeit mehr hergibt als nur ein 90-Minüter – merkte auch der britische BBC nach seinem Fernsehfilm Die geheimen Tagebücher der Anne Lister (2010) und machte das Thema letztes Jahr (gemeinsam mit dem US-Sender HBO) zur Serie, die an Originalschauplätzen, darunter auch dem echten Anwesen der Listers, Shibden Hall bei Halifax, gedreht wurde.
Macht nach schmerzlicher Trennung der wohlhabenden Ann den Hof
In der 1832 angesiedelten Version der TV-Produzentin Sally Wainwright (Scott & Bailey) kehrt Anne Lister, von Suranne Jones („Bailey“ in Scott & Bailey) mit viel Verve gespielt, nach langer Reise und einer schmerzlichen Trennung nach Yorkshire zurück. Dort soll sie sich um das Vermächtnis ihres verstorbenen Onkels kümmern, muss aber feststellen, dass der geerbte Land- und Grundbesitz ziemlich runtergewirtschaftet ist.
Daher ist es nicht nur ihre Flirt-Routine, sondern auch finanzielles Kalkül, dass sie alsbald und ohne Umschweife beginnt, der wohlhabenden Erbin Ann Walker (Sophie Rundle) den Hof zu machen.
So schnell fährt die Umzugskutsche dann doch nicht vor
Die junge, aber – oh Schreck! – noch unverheiratete Ann entflammt schnell für ihre unkonventionelle Verehrerin. Bald ist sie nicht mehr ungeküsst, Boten tragen emsig Briefchen hin und her (das Whatsapp des 19. Jahrhunderts!), es ist von einer gemeinsamen Reise und vom Zusammenleben als „Gefährtinnen“ die Rede.
Doch so schnell fährt die Umzugskutsche dann doch nicht vor, denn Ann (noch so ein typisches Lesbenproblem: dieselben Vornamen!) ist nicht immun gegenüber dem Gerede und den Erwartungen ihres Umfelds.
Zwei lesbische Frauen kompromisslos im Mittelpunkt
Es ist eine große Freude zu sehen, wie die beiden lesbischen Frauen so kompromisslos in den Mittelpunkt einer Serie gestellt werden (zumal im Hauptabendprogramm eines großen Senders!), und die Mischung aus Drama, Humor, Emotionen und Erotik stimmt.
Das ständige Hin und Her zwischen Anne und Ann verliert allerdings auf Dauer ein wenig seinen Reiz, und der zweite Plot um Listers nicht enden wollende geschäftlichen Verhandlungen mit herablassenden Männern wird wohl kaum der Grund sein, weshalb sich jemand die Serie anschaut.
Ihr früheres wildes Leben wäre spannender gewesen
Wainwright scheint nicht mit einer zweiten Staffel gerechnet zu haben (die aber kommt und demnächst gedreht wird!), denn sonst hätte sie Gentleman Jack womöglich früher beginnen lassen und nicht erst mit dem Beginn dieser Liebesbeziehung, deren Fortsetzung historisch verbürgt ist: Anne und Ann „heirateten“ in einer Kirche in York (dort hängt seit 2018 eine Gedenkplakette) und lebten bis Listers Tod in Shibden Hall – alles in allem das eher ruhige Schlusskapitel von Listers Leben, das doch vorher so viel aufregender war.
Ihre Beziehung ist für Anne zwar kein Grund, nicht mit anderen Frauen zu schlafen oder sogar - in einer Folge - mit der dänischen Königin zu flirten, aber all das macht nur umso neugieriger auf ihr früheres wildes Leben mit Reisen durch ganz Europa, erotischen Abenteuern und häufig mehreren Geliebten parallel. Und wer auf Hochzeiten steht: auch zwei von Walkers Vorgängerinnen glaubten, mit Lister verheiratet zu sein - und zwar zur gleichen Zeit!
A propos Erotik: Es gibt Sexszenen in Gentleman Jack, aber wenig nackte Haut. Dass meist viele Röcke und Decken den Blick verdecken, ist laut Wainwright aber keine Prüderie, sondern historisch korrekt: Da die Schlafzimmer seinerzeit unbeheizt waren, wurde auch beim Sex nur das Nötigste ausgezogen.
Listers Tagebücher geben noch sehr viel her
Wenn Staffel 2 schon nicht als Prequel erzählt wird, bleibt zu hoffen, dass Wainwright zumindest auf Rückblenden setzt und Gentleman Jack künftig nicht zu einer Familienserie à la Downton Abbey macht, in der dann die meisten anderen Charaktere hetero sind. Listers Tagebücher geben schließlich noch so viel her: Bisher liegen erst 1% der knapp 8000 kodierten Seiten übersetzt vor.
Und jetzt noch zu euch, ARD und ZDF: Wann kommen eigentlich die Serien über Claire Waldoff, Marlene Dietrich, Annemarie Schwarzenbach und die vielen weiteren historischen Lesben mit spannenden Geschichten, die es zu entdecken gibt???
Gentleman Jack (8 Folgen), ab 29. Jan., mittwochs um 20.15 Uhr in Doppelfolgen auf Sky Atlantic HD - wer kein Sky-Abot hat/ will: Die Folgen stehen parallel auch beim Streamingdienst Sky Ticket (Probemonat: 4,99 Euro, danach 9,99 Euro, monatlich kündbar)
Mehr über Anne Lister:
Angela Steidele: Anne Lister. Eine erotische Biographie (Matthes & Seitz, 28 Euro) - eine nicht unkritische Betrachtung: Lister sei ein „aristokratischer Snob, von der Überlegenheit der weißen, englischen Oberschicht überzeugt“ gewesen, sagte Steidele im L-MAG-Interview (Nov./Dez. 2019)
Angela Steidele über Anne Lister in einem Interview mit dem Deutschlandfunk
Anne Lister Diary Transcription Project: Ein Projekt, an dem sich über 100 (meist weibliche) Freiwillige aus aller Welt beteiligen, um die Tagebücher zu dechiffrieren
Der TV-Film Die geheimen Tagebücher der Anne Lister (BBC, 2010) ist auf DVD erhältlich
Weitere Serientipps:
Serientipp „Das Boot“: Lesbische Widerstandskämpferinnen statt schwitzende U-Boot-Besatzung
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