Serientipp „Stadtgeschichten“: Eine queere Familienserie im besten Sinne
Bunter, weiblicher, queerer und nonbinärer – Armistead Maupins Wahlfamilien-Saga aus San Francisco ist im 21. Jahrhundert angekommen und schafft es, aktuell zu bleiben, ohne die Tradition der vierzig Jahre alten Story aufzugeben. Jetzt bei Netflix.
Von Karin Schupp
8.6.2019 - Die (fiktive) Barbary Lane 28 in San Francisco ist neben der Christopher Street in New York die berühmteste Straße der LGBT-Geschichte der USA. Vor 40 über Jahren siedelte der schwule Autor Armistead Maupin dort seine queere Wahlfamiliensaga an, die er zunächst als Fortsetzungsroman im San Francisco Chronicle und später in Romanform erzählte. Nach neun Büchern, einer TV-Miniserie (1993), zwei TV-Filmen (1998/ 2001), Hörspielen und einem Musical sind die Tales of the City (dt. Titel: Stadtgeschichten) im 21. Jahrhundert angekommen: Gestern stellte Netflix zehn neue Folgen online.
Holt die früheren Fans und das junge Publikum in die Serie
Gerade auch im Vorfeld des The L Word-Reboots, das The L Word: Generation Q heißen wird (K-Word #303), schauen wir alle gespannt darauf, ob es gelingen kann, Vergangenheit und Gegenwart zu vereinen, aktuell zu bleiben, ohne die Tradition zu vergessen und dabei sowohl die früheren Fans noch das heutige, junge Publikum in die Serie zu holen.
Und ja: Die lesbische Showrunnerin Lauren Morelli (zuvor Orange is the New Black-Autorin) und Maupin, der als Produzent beteiligt war, haben das tatsächlich geschafft. Die UreinwohnerInnen der Barbary Lane sind noch da (und werden auch ohne Vorkenntnisse verstanden), aber die Welt um sie herum hat sich verändert, und die Hausgemeinschaft um die immer ein bisschen mysteriöse Matriarchin Anna Madrigal (Olympia Dukakis) ist bunter, weiblicher, queerer und nonbinärer geworden.
Mary Ann, Michael, DeDe und queere Millennials
Die brave und ein bisschen nervige Hetera Mary Ann Singleton (Laura Linney) kehrt zu Annas 90. Geburtstag - nach über zwanzig Jahren zum ersten Mal wieder - nach San Francisco zurück und bleibt, wie könnte es anders sein, dort hängen, auch wenn sich nicht alle so über ihre Rückkehr freuen wie Anna und ihr bester Freund Michael „Mouse“ Tolliver (Murray Bartlett).
Ein Wiedersehen gibt es auch mit Mary Anns Ex-Mann Brian (Paul Gross), den sie seinerzeit mit ihrer Adoptivtochter Shawna sitzen ließ, und der steinreichen, bisexuellen DeDe Halcyon (Barbara Garrick, die wie Dukakis und Linney schon in den früheren TV-Verfilmungen dabei war).
Die neuen Gesichter sind fast alle queere Millennials: Die pansexuelle Shawna (Ellen Page), die in einem queerfeministischen Kneipenkollektiv jobbt, die ehrgeizige Filmemacherin Claire (Zosia Mamet), die eine Dokumentation über das queere San Francisco dreht, Michaels viel jüngerer Freund Ben (Charlie Barnett), das Pärchen Jake (Garcia) und Margot (May Hong) und die Influencer-Zwillinge (bzw. „Twinfluencer“) Ani (Ashley Park) und Raven (Christopher Larkin).
Und alle eint die Sorge um die Barbara Lane 28 und um Anna
Shawna ist voller Wut auf Mary Ann und wirft ein Auge auf Claire; Jake, der gerade seine Transition abgeschlossen hat, entdeckt, dass er auf Männer steht; Margot muss damit zurechtkommen, dass sie als Lesbe plötzlich eine Heterobeziehung führt; Michael und Ben setzen sich mit ihrem Altersunterschied auseinander, Mary Ann und Brian umkreisen einander – und alle eint die Sorge um die Zukunft der Barbary Lane 28 und um Anna, die eine rätselhafte Entscheidung fällt, die alle betrifft.
Annas Geheimnis, das in einer Flashback-Folge aufgelöst wird, bietet nur einen losen Spannungsbogen – im Mittelpunkt stehen die kleinen und größeren Alltagsgeschichten der Charaktere, die sich nur gelegentlich kreuzen. Nicht alle Plots sind gleich gut geglückt, und manche Szenen ziehen sich ein bisschen, aber dann kommt ja auch schnell wieder die eine Figur oder die eine Story, die besonders interessieren.
Bringt die LGBTQI*-Buchstabensuppe zusammen
Stadtgeschichten hat damit den Flair einer klassischen Familienserie, nur dass die Charaktere – anders als in Diese Drombuschs und Ich heirate eine Familie nicht alle hetero und miteinander verwandt sind. Das ist nicht despektierlich gemeint: In Zeiten, in denen sich Serien mit Drama, verwundenen Plots, überraschenden Enthüllungen und anderen Paukenschlägen gegenseitig übertrumpfen, ist das überraschend wohltuend.
Und dabei gar nicht oberflächlich und platt: Stadtgeschichten ist die erste Serie, die die verschiedenen Welten der LGBTQI*-Buchstabensuppe – ältere Schwule, die die Aids-Krise überlebten, die politisch überkorrekte „Generation Q“, klassische Butch-Lesben, junge und alte Trans und unterschiedliche sexuelle Identitäten, die häufig eigentlich doch dasselbe meinen – aufeinandertreffen und sich austauschen lassen. Was im echten Leben bekanntlich entweder nicht passiert oder häufig im Streit endet.
Gebt uns die queere "Lindenstraße"!
Schön auch, dass viele der Schauspieler_innen lesbisch oder schwul sind, darunter Ellen Page (Inception, Freeheld), Murray Barnett (der auch in der Schwulenserie Looking mitspielte), Charlie Barnett (bekannt aus Chicago Fire und der neuen Netflix-Serie Matrjoschka), Victor Garber (Legends of Tomorrow) und Comedian Fortune Feimster (The Mindy Project), und Transrollen mit Transschauspieler_innen besetzt wurden, wie etwa Jen Richards als junge Anna (eine Ausnahme wurde nur für Olympia Dukakis gemacht, die ihre Rolle nun mal seit über 25 Jahren spielt).
Netflix labelt Stadtgeschichten als Miniserie, was bedeutet, dass eine weitere Staffel nicht von vornherein eingeplant ist. Aber diese Geschichte, die nun schon vier Jahrzehnte überlebte, ließe sich wunderbar noch lange als Chronik der LGBTQ-Kulturgeschichte der USA weitererzählen – gebt uns die queere Lindenstraße!
Stadtgeschichten (Tales of the City), USA 2019, 10 Folgen, exklusiv bei Netflix
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