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Zum Tod der Schriftstellerin Verena Stefan

Gestern Abend starb die lesbische Schriftstellerin Verena Stefan, Autorin des feministischen Kultromans "Häutungen", im Alter von 70 Jahren. Ein Nachruf von ihrer langjährigen Weggefährtin Monika Mengel.

Monika Mengel Verena Stefan (3. Okt. 1947-29. Nov. 2017)

Von Monika Mengel

30.11.2017 - Die Schriftstellerin Verena Stefan ist tot. Die Autorin des feministischen Bestsellers „Häutungen“ (erschienen 1975) starb am 29. November im Alter von 70 Jahren nach langer Krebserkrankung in ihrer Wahlheimat Montreal. Das teilte ihre Ehefrau Lise Moisan mit.

Verena Stefan gehörte zu jenen Schweizerinnen, die früh ihr Land verließen. 1967, mit knapp 20 Jahren, geht sie nach Berlin. Zu dieser Zeit verwehrt die Schweiz den Frauen noch immer das Wahlrecht. Die vermeintlich „Göttliche Ordnung“ sollte nicht ins Wanken geraten. Petra Volpes gleichnamigen Spielfilm von 2017 hat Verena Stefan noch sehen können und zwar „mit größtem Vergnügen.“

"Etwas Neues wird kommen..."

Dem „so war es schon immer“ widersprechen, Grenzen ausloten, kritisch die eigene Befindlichkeit hinterfragen, sich trotzig neu erfinden - sich also häuten wie eine Schlange, das kann als ihr Lebensimpuls gelten. In einem letzten, bisher unveröffentlichten, englischsprachigen Manuskript lässt Stefan ihre todkranke, hochbetagte Bettnachbarin während einer Chemotherapie sagen: „Warum ertragen wir diese miserable Situation hier, wenn wir doch etwas ändern könnten?“ Auch Stefan verweigert sich einer letzten Chemotherapie: „Ich will mein Leben zurück haben, es in meinen beiden Händen halten. Etwas Neues wird kommen, auch wenn es nicht die Heilung sein wird.“

Die ungerührt nüchterne Betrachtung des eigenen Körpers ist für Verena Stefan eine frühe Übung. „Ich war ewig krank. Ein Kind mit schwacher Konstitution.“ Sie wächst in Bern auf. Die Mutter ist Schweizerin, der Vater stammt aus dem ehemaligen Sudetenland. Das Kind lebt zeitweise bei den Großeltern. Über ihren Großvater Julius Brunner, einen Landarzt, der wegen illegaler Abtreibungen denunziert wird, im Gefängnis und später in der Psychiatrie landet, wird sie 2014 ihren letzten, in Teilen autobiografischen Roman schreiben: „Die Befragung der Zeit“.

Ihre Familie fand sie in anderen Verwandtschaften

Als Gymnasiastin lernt sie, Geige zu spielen. Sie ist ein ungelenkes, junges Mädchen mit skeptischem Blick aus strahlend blauen Augen. Der Lehrer rät ihr: „Geh einmal zu meiner Frau. Du solltest richtig atmen lernen!“ Die körperbezogene Therapie ist das, was sie braucht. „Sie war meine erste wichtige Lehrmeisterin“, betont Verena Stefan noch in einem letzten Interview kurz vor ihrem Tod. Wie ihr Vorbild wird auch sie Physiotherapeutin.

Zur Ausbildung geht sie nach Berlin. „Landesflucht war das. Raus aus der hinterwäldlerischen Schweiz. Und nicht nur das. Auch familienflüchtig war ich.“ Familie wird sie künftig in anderen Verwandtschaften suchen. In der Frauenbewegung, der internationalen Lesbenbewegung, in der Literatur.

Durch ihren Beruf bekommt Verena Stefan Kontakt zu Gynäkologinnen und anderen Frauen im Gesundheitswesen. Dazu Künstlerinnen und Schriftstellerinnen. 1972 gründen sie die Gruppe „Brot und Rosen“. Eine bringt das Buch „Our Bodies, Ourselves“ aus den USA mit. Die Übersetzung, ergänzt durch eigene Texte, wird zum ersten „Frauenhandbuch“, zum Ratgeber für Verhütung und Abtreibung. Die Medizinerinnen in der Gruppe organisieren Sprechstunden. Dort berichten Frauen von Übergriffen bei gynäkologischen Untersuchungen. Im Februar 1974 klagen „Brot und Rosen“ in einem öffentlichen Teach-in fünf Berliner Frauenärzte wegen Vergewaltigung, Nötigung und Steuerhinterziehung an.

Verena Stefans autobiografischer Roman (1975) stand in jedem lesbisch-feministischen Bücherregal. Zurzeit ist er leider nur antiquarisch erhältlich

"Häutungen": Von Leserinnen geliebt, von den Feuilletons verrissen

Die Pille, die sexuelle Revolution, die Rasanz, mit der sich das Verhältnis der Geschlechter zueinander zu verändern scheint, gleichzeitig das Gefühl, nach wie vor nur Objekt sexueller, männlicher Begierde zu sein – darüber, so beschließt Verena Stefan 1974, will sie ein Buch schreiben. „Häutungen“ erscheint 1975 im Münchner Verlag Frauenoffensive. Auflage: 300 000, übersetzt in acht Sprachen. Für Leserinnen und auch einige Leser ein Kultbuch wird es von den meisten Feuilletons als „Bekenntnisroman“ verrissen.

Aber es gibt auch positive Stimmen. So schreibt die DDR-Dissidentin und preisgekrönte Autorin Christa Reinig in der Süddeutschen Zeitung: „Literatur ist hartes Männergeschäft. Das muss jede Autorin erfahren, wenn sie das Wort ‚ich‘ gebraucht.“ Im Spiegel konstatiert Sophie von Behr: „Häutungen ist ein beunruhigendes Buch.“ Bis heute ist Verena Stefans kritische Sprach- und Geschlechter-Analyse Inhalt von Germanistik-Seminaren.

Die erste Lesbengeneration, die selbstbestimmt leben durfte

Nach „Häutungen“ verlegt sich Verena Stefan ganz aufs Schreiben. Außerdem übersetzt sie mit Gabriele Meixner u.a. Werke von Monique Wittig. Auch Verena Stefan sagte „Ich bin keine Frau“, womit sie allerdings nicht die Dekonstruktion des Weiblichen vertrat, sondern die Reduzierung der Frau auf ihre traditionelle Rolle kritisierte.

Sie lebt Frauenbeziehungen, zieht aufs Land und geht auf Reisen. 1987 erscheint „Wortgetreu ich träume“ im renommierten Schweizer Arche Verlag. Poetische, reale Geschichten über das Leben mit der Partnerin auf dem Land. Rückblickend sagte sie: „Wir waren die erste Lesbengeneration, die das Privileg hatte, so selbstbestimmt zu leben, wie wir das wollten.“

1993 veröffentlicht sie „Es ist reich gewesen – vom Sterben meiner Mutter“ in der Fischer Taschenbuchserie „Die Frau in der Gesellschaft“. Sie findet heraus, dass auch die Mutter geschrieben hat. Es sind mehrere Kladden Tagebücher erhalten, in denen die Tochter atemlos liest, bis sie sie verzweifelt aus der Hand legt: „Nicht noch mehr Qual, Schlaflosigkeit und Atemnot, noch mehr kochen, bügeln, putzen, noch mehr Zähmungsakte nachlesen.“ Ihre Mutter hat nachts geschrieben, Zeit abgezwackt, immer mit dem Gefühl, etwas nicht Erlaubtes zu tun: „Warum kritzle ich hier leere Seiten voll, anstatt brav hinter dem Bügelbrett zu stehen?“

Verena Stefan wird zu internationalen, feministischen Buchmessen eingeladen. Amsterdam, Oslo, Montreal. In Montreal wird sie in der feministischen Szene mit offenen Armen empfangen und findet eine neue Liebe. 1999 übersiedelt sie nach Kanada und beantragt die kanadische Staatsbürgerschaft.

Auch nach ihrer Krebserkrankung blieb sie produktiv

Produktive Jahre folgen. Auch während ihres 15 Jahre dauernden Kampfes gegen den Krebs. Bald nach ihrer Diagnose 2002 erscheint „Fremdschläfer“, ein Roman über das Fremdsein in einem fremden Land und über den Fremdkörper in ihrer Brust.

Das Goethe-Institut in Montreal fragt an, ob sie Interviews mit deutschen Holocaust-Überlebenden führen möchte. Das Buchprojekt raubt Zeit. Mehrere Fassungen entstehen, werden verworfen, neu geschrieben, bis das Manuskript druckreif ist. Es erscheint 2011 im Wunderhorn Verlag unter dem Titel „Als sei ich von einem anderen Stern“.

Ihren letzten Roman „Die Befragung der Zeit“ veröffentlicht sie 2014 im Verlag Nagel & Kimche. Es ist die Geschichte eben jenes Großvaters Julius Burger, der als Landarzt Abtreibungen vornimmt und verraten wird. In der Psychiatrie wird er Wochen lang auf seinen Geisteszustand hin untersucht. Rosa, die Enkelin, Verena Stefans alter ego, lauscht seinen Geschichten, mit denen er sich aus der bedrohlichen Wirklichkeit stiehlt. Dabei fahren sie in der Phantasie mit einem Ballon über das Land.

In der Nacht zum 30. November ist Verena Stefan in Montreal gestorben. Wie ihre Ehefrau und Lebensgefährtin Lise Moisan mitteilt, sei sie friedlich eingeschlafen.

Die Autorin führte vor 14 Tagen ein letztes Interview mit Verena Stefan. Es soll in der WDR-Serie "Erlebte Geschichte" zeitnah gesendet werden – wir werden den Termin ankündigen.

Monika Mengel ist Hörfunkjournalistin und eine langjährige Weggefährtin von Verena Stefan. In den 1970ern war sie Mitglied der ersten Lesbenrockband "Flying Lesbians" in Berlin. Heute lebt sie mit ihrer Frau in der Eifel.

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