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Solidarität gegen Abbau des Rechtsstaats

Ungarns queere Community schließt sich breitem Bündnis gegen autoritäre Verfassungsänderung an. Von Silviu Mihai

Proteste gegen die Verfassungsänderung am vergangenen Wochenende auf dem Kálvin-Platz c: Miklós Barna

l-mag.de 31.3.2013 – Budapest – „Es ist jetzt genug, wir werden dies nicht mehr hinnehmen. Wir werden jeden Tag auf die Straßen gehen, bis jemand Viktor Orbán endlich stoppt“, verspricht Milán Rózsa sichtlich verärgert. Der 25-Jährige engagiert sich seit Längerem bei der Studentenorganisation HaHa, doch in den vergangenen Wochen geht er fast täglich demonstrieren. Wie er protestieren seit Wochen Tausende Menschen in der Budapester Innenstadt. „Die Verfassungsänderung betrifft mich persönlich in doppelter Hinsicht“, stellt Rózsa fest. „Als Studierender muss ich zukünftig mit deutlich höheren Studiengebühren rechnen, als schwuler Mann werde ich aus dem Begriff von Familie ausgeschlossen, womöglich wird meine eingetragene Partnerschaft bald nicht mehr anerkannt.“

Studenten, Obdachlose, Gewerkschafter, Schwule und Lesben, Lehrer, Menschenrechtsaktivisten, Medienschaffende, verarmte Rentner und Budapester Hipster demonstrieren gemeinsam

Ungarns rechtspopulistischer Premier hat es beinahe geschafft: Gegen die umfassende Verfassungsänderung, die am vergangenen Montag im Parlament durchgepeitscht wurde, hat sich ein selten breiter gesellschaftlicher Widerstand gebildet. Studenten, Obdachlose, Gewerkschafter, Schwule und Lesben, Lehrer, Menschenrechtsaktivisten, Medienschaffende, verarmte Rentner und Budapester Hipster demonstrieren gemeinsam. Es ist eine wahre Premiere im traditionell apathischen Osteuropa. Das Ergebnis der Abstimmung hat niemanden überrascht. Dass die Fidesz-Zweidrittelmehrheit alles abnickt, was Viktor Orbán in den Sinn kommt, gilt mittlerweile als eiserne Regel unter dem Regime der „nationalen Zusammenarbeit“.

Der neue Gesetzestext besteht aus 15 Seiten und stellt bereits die vierte Änderung des neuen rechtskonservativen, 45-seitigen Grundgesetzes dar, das erst Anfang 2012 in Kraft getreten ist. Die Änderung macht fast alle Kompromisse, die Orbán auf Druck der EU oder des Verfassungsgerichts akzeptieren musste, auf einen Schlag rückgängig. So werden die Kriminalisierung der Obdachlosigkeit, die Einschränkungen der Wahlwerbung und die Verwaltungswillkür in Sachen Religionsfreiheit, die bereits für verfassungswidrig erklärt wurden, jetzt wieder möglich, in dem die Parlamentsmehrheit sie einfach in die Verfassung schreibt.

Desweiteren schränkt der Text die Autonomie der Universitäten deutlich ein und droht den Studenten, die nach dem Abschluss im Ausland arbeiten wollen, hohe rückwirkende Studiengebühren an. Auch die Unabhängigkeit der Justiz wurde beschnitten, indem ein politisch ernannter Beamter ohne Begründung entscheiden kann, welcher Richter welchen Fall bekommt. Schließlich bekommt selbst das Verfassungsgericht Orbáns Rache für das Kippen der Gesetze zu spüren: Die Richter müssen ihre alten Beschlüsse neu redigieren.

Familie ist künftig per Definition heterosexuell, mit Eheschein

Das Grundgesetz wurde auch um einen Passus ergänzt, der die Familie als heterosexuell definiert und auch heterosexuelle Paare ohne Eheschein aus dieser Definition ausschließt. Auch diesen Passus versuchte Fidesz ursprünglich im Rahmen eines Familiengesetzes einzuführen, allerdings scheiterte der Versuch am Urteil des Verfassungsgerichts, das von LGBT- und Menschenrechtsorganisationen eingeschaltet wurde und den Text als viel zu restriktiv ablehnte. Jetzt schrieb die rechtspopulistische Mehrheit auch diese Definition direkt in die Verfassung, damit ist das Verfassungsgericht machtlos geworden.

Aktivist Milán Rózsa bei einem Protest vor dem Verfassungsgericht c: Miklós Barna

Noch ist unklar, was dieser Schritt für die eingetragenen Partnerschaften bedeuten könnte. Diese Rechtsform ist in Ungarn seit der Wende üblich und bietet ähnliche Rechte wie eine eingetragene Partnerschaft nach deutschem Recht. „Zwar hatten Schwule und Lesben bisher nicht die gleichen Rechte wie Heterosexuelle, denn die Adoption von Kindern war nie erlaubt“, erklärt Tamás Dombos von Háttér, dem größten LGBT-Verein in Ungarn. „Aber die Partnerschaften waren populär, sogar unter Heteros, weil sie eine flexible und unkomplizierte Lösung von Erb- und Geldfragen boten, zusammen etwa mit dem Recht auf Besuche im Krankenhaus oder auf eine Aufenthaltsgenehmigung für Lebenspartner, die keinen EU-Pass haben.“

Damit könnte bald Schluss sein, denn diese Partnerschaften fallen nicht mehr unter die neue Familiendefinition der Verfassung. Dass die Regierungspartei weitere Schritte in die homophobe Richtung unternehmen wird, gilt für die meisten Beobachter als sicher. Erst vor wenigen Tagen wurde im Parlament ein weiteres Gesetzesvorhaben auf die Agenda gesetzt, das eine Stärkung der traditionellen Geschlechterrollen in der Früherziehung vorsieht. „Die Ziele von Fidesz sind längst klar, jetzt ist auch klar geworden, dass Orbán sämtliche rechtsstaatliche Garantien abbauen wird. Wir müssen uns stark gegen diesen Autoritarismus mobilisieren und Solidarität mit anderen Betroffenen zeigen“, sagt Aktivist Milán Rózsa.

Zivilgesellschaftet erwartet schärfere Töne

Angesichts der massiven Angriffe auf die Rechtsstaatlichkeit radikalisiert sich wie erwartet der Protest der demokratischen, vor allem außerparlamentarischen Opposition. Die Fidesz-Zentrale in Budapest wurde vor zwei Wochen mehrere Stunden lang von Protestlern besetzt. Für die kommenden Tage ist wieder mit massiven Protestaktionen der diversen Oppositionsgruppen zu rechnen. Auch die Vertreter der europäischen Institutionen äußerten sich zu der Lage in Ungarn kritisch. „Angesichts der angespannten Lage zwischen Ungarn und den europäischen Institutionen wird sicher auch über Sanktionen diskutiert werden müssen“, sagte Martin Schulz, der Präsident des EU-Parlaments.

Die ungarische Zivilgesellschaft erwartet jedoch viel schärfere Töne und ein klares Machtwort aus Brüssel. Die Kommission könnte nämlich auf die außerordentliche Situation mit außerordentlichen Maßnahmen reagieren und der EU ein wirksames Druckmittel zur Verfügung stellen für den Fall, dass in einem europäischen Land der Rechtsstaat gefährdet wird. Dies könnte, wie bereits in einem Schreiben des deutschen und drei anderer Außenminister angedroht, das Zudrehen des Brüsseler Geldhahns sein, was in Zeiten der Schuldenbremsen und Ratingagenturen verheerende Konsequenzen auf die finanzielle Stabilität eines Landes hätte – zumindest in Ost- und Südeuropa, also an der europäischen Peripherie. „Wir hoffen auf Europas Hilfe. Bis dahin bleibt uns nur der permanente Protest“, sagt Milán Rózsa.

Der Autor Silviu Mihau ist freier Journalist und Osteuropa-Korrespondent


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