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Filmtipp „Zikaden“: Parallelwelten in der Provinz

In ihrem Drama rund um Sorgearbeit, Älterwerden und Elternschaft stellt Nina Weisse die Annäherung zweier charismatischer Frauenfiguren in den Mittelpunkt. Was daraus werden könnte, deutet sich jedoch lediglich an. Kinostart: 19. Juni.

Judith Kaufmann/ Lupa Film Frauen aus unterschiedlichen Lebenswelten: Isabell (Nina Hoss, l.) und Anja (Saskia Rosendahl)

Von Anja Kümmel

17.6.2025 - Man hört nicht nur die titelgebenden Zikaden im Hintergrund zirpen, man spürt förmlich die schwüle Luft, die zwischen den Bäumen steht, riecht das Harz der Pinien und den Schweiß, der an Anjas Körper hinabrinnt, während sie verzweifelt rufend ihrer kleinen Tochter hinterherrennt, die mal wieder einfach in den Wald abgehauen ist.

Zugleich schiebt sich in der Distanz eine Kolonne glänzender Wagen durch die Sommerhitze Brandenburgs, um schließlich vor den nüchternen, klaren Formen eines Bauhaus-Bungalows zu halten. Heraus steigt die Immobilienmaklerin Isabell samt ihren gebrechlichen Eltern, einem polnischen Pfleger, Transporthelfern und jeder Menge Gepäck. Und obwohl sich an den Außentemperaturen nichts geändert hat, geht von diesen Szenen plötzlich etwas Unterkühltes, fast Steriles aus.

Zwei Welten, die unterschiedlicher nicht sein könnten

Ohne große Worte montiert Nina Weisse in ihrem dritten Spielfilm zwei Welten neben- und ineinander, die unterschiedlicher kaum sein könnten: Anja (Saskia Rosendahl) lebt als alleinerziehende Mutter auf dem Dorf und versucht sich und ihre Tochter mit diversen Gelegenheitsjobs über Wasser zu halten. Überforderung und Abgehetztheit stehen ihr ins Gesicht geschrieben, doch es scheint ihr egal zu sein, was andere denken, wenn sie mal wieder mit schlabbrigen Shorts und wirren Haaren durchs Dorf rennt, um ihr Kind einzufangen.

Dagegen wirkt Isabell (Nina Hoss, Tár), perfekt geschminkt und in eleganten Outfits gekleidet, äußerlich völlig gefasst. Reibungslos wechselt sie von einer Sprache in die andere, wenn sie mit ihrem französischen Ehemann parliert, pendelt zwischen Stadt und Land, wo sie sich um das langsam verfallende Wochenendhaus ihrer Eltern kümmert und nebenbei ständig neue Pfleger für ihren nach einem Schlaganfall im Rollstuhl sitzenden Vater zu organisieren versucht. Doch ihre Mine sieht verhärtet aus, und es scheint nur eine Frage der Zeit zu sein, bis die Fassade bröckeln wird.

Eine sofortige gegenseitige Faszination ist spürbar

Zunächst streifen sich die Lebenswelten dieser beiden so unterschiedlichen Frauen nur flüchtig: Ein bisschen Smalltalk übers Wetter, eine gemeinsame Zigarette. Doch eine sofortige gegenseitige Faszination ist spürbar.

Immer öfter taucht Anja in Isabells Umfeld auf, dringt fast schon offensiv in deren Leben ein. Und Isabell öffnet ihr bereitwillig die Tür. Ist es eine erotische Anziehung? Die Sehnsucht nach einem ganz anderen Leben? Oder eine weitaus dunklere Absicht?

Weisse überlässt es ihren Zuschauer:innen, aus den fragmentarischen Episoden schlüssige Biographien zusammenzusetzen, den Motiven nachzuspüren, die Anja und Isabell zueinander hinziehen. Isabell, begreifen wir allmählich, hat sich von ihrem Ehemann entfremdet und hadert, in der Mitte ihres Lebens angekommen, mit der Kinderlosigkeit. Ihr Vater, ein berühmter Architekt, bleibt der Patriarch, der selbst vom Rollstuhl aus noch Ehefrau und Tochter dominiert.

Auf dem schmalen Grat zwischen Begehren und Identifikation

Anjas Vergangenheit und Familienverhältnisse hingegen bleiben weitgehend im Dunkeln. Mehrmals ertappen wir sie dabei, wie sie Isabell anlügt. So schleicht sich in manche Szenen eine unterschwellige Beklemmung, die an die homoerotischen Spannungen in Psychothrillern wie „Der talentierte Mr. Ripley“ oder „Weiblich, ledig, jung, sucht …“ erinnert.

Weisse jedoch entscheidet sich dafür, das vieldeutige Knistern unaufgelöst und ihre Hauptfiguren weiter auf dem schmalen Grat zwischen Begehren und Identifikation wandeln zu lassen.

Manchen mag das zu vage sein. Die großartige Schauspielleistung von Hoss und Rosendahl und nicht zuletzt die herausragende Kameraarbeit von Judith Kaufmann sorgen jedoch dafür, dass man trotz der Leerstellen immer wieder ins Geschehen hinein geholt wird. Auf einer rationalen Ebene bleiben viele Fragen offen; dafür entlässt einen „Zikaden“ mit starken sinnlichen Eindrücken und ambivalenten Affekten, die noch lange nachwirken.

Zikaden. Deutschland/Frankreich 2025. Regie/ Buch: Ina Weisse, 100 Minuten. Kinostart: 19. Juni 2025

 

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