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Kinotipp „Tár“: Cate Blanchett brilliert als lesbische Dirigentin in umstrittenem Drama

Das für 6 Oscars nominierte Drama „Tár“ hat eine lesbische Hauptfigur und ist doch kein Lesbenfilm - und der Film sorgt für Stirnrunzeln, da er um das eher männertypische Thema Macht(missbrauch) geht. Aber fesselnd ist er allemal. Kinostart: 2. März.

Focus Features Seltener zärtlicher Moment: Lydia (Cate Blanchett, r.) und Sharon (Nina Hoss)

Von Karin Schupp

1.3.2023 - Zwei nackte Frauenfüße, die sich auf einem mit Plattencovern bedeckten Boden zärtlich berühren. Ein Bühnengespräch, in dem die große Bedeutung der (fiktiven) Stardirigentin Lydia Tár (Cate Blanchett) vorgestellt wird. Und ein rätselhafter Dialog hinter einer Schwarzblende, der erst ganz am Ende aufgelöst wird: Die ersten Minuten von Tár sind quasi bereits eine Zusammenfassung des Films über die offen lesbische Chefdirigentin der Berliner Philharmoniker, die in der männerdominierten Klassikwelt alle Preise gewonnen hat, die es gewinnen gibt, weiblichen Nachwuchs fördert und gerade ihre Memoiren geschrieben hat. Dass der Thron des Weltstars auch wackeln und kippen kann, merken weder Lydia noch – zunächst – das Publikum.

Wie in einem Dokumentarfilm begleiten wir sie durch ihre, von Assisstentin Francesca (Noémie Merlant) straff organisierten Tage: Proben zu Mahlers 5. Sinfonie, Mittagessen mit Kollegen, ein Uni-Seminar in New York, in dem sie einen Studenten, der keine Stücke von „weißen cis Männern“ dirigieren will, abkanzelt. Und die immer nur kurzen Stippvisiten in ihrem Haus, einem düsteren Betonbunker, in dem sie mit ihrer Frau Sharon (Nina Hoss), der ersten Geigerin ihres Orchesters, und ihrer kleinen Tochter Petra (Mila Bogojevic), lebt.

Zwischen Charme und kühler Arroganz

Die stets in Maßanzügen gekleidete Lydia erlaubt es sich, zwischen Charme und kühler Arroganz zu wechseln, wie es ihr gerade so gefällt, und alles Störende – mysteriöse Geräusche, vor allem aber die Kontaktversuche einer jungen Musikerin – unwirsch wegzuwischen. Ob die von ihr geförderte und dann fallen gelassene Krista auch eine Ex-Loverin war, bleibt dabei ebenso offen wie die Frage, ob Lydia eine #MeToo-Täterin ist oder nicht: Dass sie Affären mit ihr untergebenen Musikerinnen hat, wird nur angedeutet.

Focus Features Wie Lydia (r.) die junge Cellistin Olga umkreist, lässt nicht nur ihre Frau Sharon den Kopf schütteln

Erst als Olga Metkina, gespielt von der deutsch-britischen Cellistin Sophie Kauer, bei den Philharmonikern anfängt, lernen wir diese Seite an Lydia kennen: Wie sie die junge Musikerin umkreist und unter Missachtung aller Konventionen im Orchester bevorzugt, lässt nicht nur - die nur ein paar Meter daneben sitzende - Sharon den Kopf schütteln, zumal sich um Lydia herum mittlerweile Unheil zusammenbraut. Aber einen Shitstorm ihrer New Yorker Studierenden nimmt sie nicht ernst, und auch als ihr schließlich ihr Verhalten gegenüber Krista auf die Füße fällt, versteht sie viel zu lange nicht, dass sie nicht unangreifbar ist.

#MeToo-Thema mit lesbischer Hauptfigur sorgt für Stirnrunzeln

Tár dreht sich um klassische Musik und ist doch kein Film übers Dirigieren. Er hat eine lesbische Hauptfigur und ist doch kein Lesbenfilm. Er ist ein Film über Macht, Machtmissbrauch und die Blindheit der Mächtigen für ihr Tun. Wieso Regisseur Todd Field eine lesbische Hauptfigur wählte, wo der typische #MeToo-Täter doch cis-männlich ist, sorgt für Stirnrunzeln.

Heftige Kritik äußerte die echte lesbische Dirigentin des ORF Radio-Symphonieorchesters Wien. Marin Alsop (66), die im Film auch namentlich erwähnt wird, sagte der Sunday Times: „Ich war beleidigt als Frau, ich war beleidigt als Dirigentin, ich war beleidigt als Lesbe. Eine Frau in dieser Rolle darzustellen und sie zur Täterin zu machen - das war schmerzhaft für mich.“ Es gebe „so viele Männer - echte, dokumentierte Männer -, auf denen dieser Film hätte basieren können, aber stattdessen steckt man eine Frau in die Rolle und gibt ihr alle Eigenschaften dieser Männer. Das wirkt frauenfeindlich. Wenn man davon ausgeht, dass Frauen sich entweder genauso verhalten wie Männer oder hysterisch, verrückt, wahnsinnig werden, dann setzt man etwas fort, das wir schon so oft im Film gesehen haben.“

Regisseur Todd Field: Macht korrumpiert jeden, der sie berührt

Todd Field, der Macht für „geschlechtlos“ hält, glaubt hingegen, dass er mit dieser Entscheidung seinen Punkt noch deutlicher machen konnte. „Wir alle kennen den patriarchalen Machtmissbrauch, aber wir lesen nicht jeden Tag von weiblichen oder lesbischen Personen, die ihre Macht missbrauchen, und dafür gibt es einen Grund: Männer haben sie schon immer inne“, sagte er gegenüber Radiotimes.com. „Indem die Figur nicht männlich ist, erkennt man hoffentlich die Macht als das, was sie ist, nämlich etwas, dass jeden, der sie berührt, korrumpiert.“

Unrecht hat er damit wahrscheinlich nicht, aber man kann ihm sicherlich auch unterstellen, dass Tár mit einer männlichen Hauptfigur weniger Aufmerksamkeit auf sich gezogen hätte. Und dass Field nichts von dem Defizit an positiven Lesbenfiguren im Kino weiß - es wäre ihm wohl auch nicht so wichtig.

Lydia Tár: keine Lesbenikone, aber Blanchett ist herausragend

Die thrillerhafte Inszenierung und Kamerarbeit und die starken schauspielerischen Leistungen sorgen dennoch dafür, dass Tár ein fesselnder (wenn auch unnötig langer) Film ist und seine sechs Oscar-Nominierungen, darunter als „Bester Film“ und für die hervorragende Cate Blanchett, verdient hat.

Fields Glück ist tatsächlich seine Hauptdarstellerin: Dank Blanchetts eindrucksvollem Schauspiel und ihrem Status als Lesben-Ikone, den sie vor allem ihrer lesbischen Rolle in Carol verdankt, begegnen wir Lydia etwas milder, als sie es verdient hat. Oder tun wir ihr Unrecht, und sie ist doch eine feministische Figur, die „sich selbst erschaffen [hat] und nicht aufgibt“, wie unsere Rezensentin in L-MAG (1/2023) schrieb?

Lydia Tár jedenfalls hat nicht das Zeug zur Lesben-Ikone, aber so viel lässt sich versprechen: Ein Filmerlebnis ist Tár allemal, und in der Kneipe nach dem Kinobesuch wird‘s viel zu diskutieren geben!

Tár (USA 2022), Regie/ Buch: Todd Field, mit Cate Blanchett, Nina Hoss, Noémie Merlant, Sophie Kauer u.a., 158 min., Kinostart: 2. März 2023

 

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