Krieg in der Ukraine: Eine queere Geflüchtete berichtet
„Der Blick hat sich verändert, und selbst wenn man versucht zu lächeln, lächeln die Augen nicht“: Wir sprachen mit Mila Kirilenko aus Kiew, die mit ihrer Frau, ihrem Sohn und ihrer Schwester nach Deutschland geflohen ist.
Von Sonya Winterberg
19.3.2022 - Vor dem Krieg in der Ukraine fliehen auch Mitglieder der queeren Community. Am 11. März kamen Mila Kirilenko und Vera Yakowenko mit ihrer kleinen Familie aus Kiew in Berlin an. Die Video- und Filmproduzentin und Übersetzerin Mila und die Regisseurin Vera sind seit 2013 ein Paar, zu ihrer Familie gehören noch der 18-jährige Sohn Wladik und Milas Schwester Lena. Wir sprachen mit Mila darüber, was der Krieg für sie bedeutet und was sie erlebt haben.
Wie habt Ihr vor dem Krieg gelebt?
Mila: Wir waren eine ganz normale Familie und lebten in einem Vorort von Kiew im 8. Stock eines Hochhauses. Meine Schwester ist fast komplett taub, mein Sohn Wladik ist Autist und Epileptiker. Wir haben einen kleinen Hund, treiben gerne Sport, machen Ausflüge. Am 23. Februar, einem Mittwoch, waren wir noch in der Gegend von Schytomyr wandern. Wir konnten uns im Traum nicht vorstellen, dass tatsächlich ein Krieg ausbrechen würde.
Am nächsten Tag, dem 24. Februar, war es dann soweit…
Ja, es war surreal. Wladik und ich waren gerade positiv auf Covid-19 getestet worden. Es war unser erster Tag in Quarantäne, und an diesem Morgen teilte sich unser Leben in „davor“ und „danach“. Wir wachten von Explosionen in der Nähe unseres Wohngebietes auf. Im Laufe des Tages beruhigte sich die Lage etwas und wir ruhten uns hauptsächlich aus. Später am Nachmittag hörten wir wieder Flieger und auch Schüsse. Wir klebten unsere Fenster ab, um bei einer Druckwelle nicht durch Splitter verletzt zu werden.
Aber ihr wolltet zu dem Zeitpunkt nicht fliehen?
Nein, mir ging es ja auch gesundheitlich nicht gut. Wladik hatte nur leichte Symptome, aber ich hatte Kopfschmerzen, Fieber und Husten. Meine Schwester versuchte einzukaufen, aber der Supermarkt in unserer Nähe war schon geschlossen und vor den kleinen Läden hatten sich lange Schlangen gebildet. Es gab kaum noch Lebensmittel. Die Bankautomaten waren leer und die Banken geschlossen.
Wie ging es weiter?
In der zweiten Nacht fielen wieder Bomben, diesmal auch direkt bei uns. Nachts um vier hielten wir es nicht mehr aus. Wir nahmen das Nötigste an uns und rannten im Bombenhagel zum Auto und fuhren los. Die Straßen waren vollkommen verstopft. Wir fuhren wieder in Richtung Schytomyr, wohin wir nur Tage zuvor einen Ausflug gemacht hatten. Statt wie sonst zwei Stunden, waren wir diesmal rund zwanzig Stunden unterwegs. Kurz nach Mitternacht kamen wir in einem Hotel an, das zwar keine Zimmer mehr hatte, aber wie viele andere Flüchtlinge, durften wir im Flur campieren. Am nächsten Tag fuhren viele weiter, aber wir konnten das nicht und nahmen erst mal ein Zimmer.
Wie lange seid ihr in Schytomyr geblieben?
Fast eine Woche. Tagsüber waren wir im Zimmer, aber die Nächte verbrachten wir im Keller. Jede Nacht nahmen die Bombardierungen zu. Wir berieten uns mit den Männern der Bürgerwehr und überlegten, wann wir wohin weiterfahren könnten.
Am 4. März hast Du auf Facebook über Eure Lage geschrieben.
Ja, ich nannte es „Romanze des Kriegs“. Wir saßen bei Kerzenschein im Gewölbe, und mir wurde bewusst, dass wir mit dem Verlassen unserer Wohnung in Kiew alles verloren hatten. Ich schrieb: „Unter dem Haar, das auch schon am Tag vor dem großen Krieg getragen wurde, kann man nun das Grau der Haare erkennen. Der Blick hat sich verändert, und selbst wenn man versucht zu lächeln, lächeln die Augen nicht.“
Wie ging es deinem Sohn in diesen Tagen?
Wladik hatte mehrere epileptische Anfälle und große Angst. Er konnte sich gar nicht beruhigen. Einmal brauchten wir auch den Notarzt. Wladik gilt seit frühester Kindheit als behindert. Drei Monate zuvor ist er 18 geworden, aber wir hatten seine Wehrunfähigkeitsbescheinigung noch nicht erhalten. Deshalb hatten wir große Sorge, dass er nicht ausreisen dürfte. Für junge Männer wie ihn gab es zunächst keine Ausnahmeregelung – alle Männer zwischen 18 und 60 mussten in der Ukraine bleiben. Und natürlich hätten wir ihn niemals alleine zurückgelassen.
In den Nachrichten hörten wir, dass die Wartezeiten an den Grenzen bis zu 36 Stunden dauerten. Wie und wo seid ihr schließlich herausgekommen?
Irgendwann war klar, dass wir mit den Arztbriefen und Gutachten von Wladik versuchen mussten, die Grenze zu überqueren. Wir fuhren über Winnyzja nach Czernowitz, wo wir noch mal eine Nacht blieben. Über Bekannte erhielten wir Hilfe bei der Ausreise nach Rumänien. Es war ein unbeschreibliches Gefühl, als wir es geschafft hatten. Einerseits großes Glück, aber auch Trauer. Am Tag darauf fuhren wir dann Richtung Berlin, wo wir Freunde und Bekannte haben. Wir fuhren dreißig Stunden am Stück durch und kamen sehr erschöpft schließlich an.
Wie geht es euch jetzt?
Nun, wir sind nach einer Nacht in Berlin nach Neuruppin umgezogen. Es ist ländlicher, und Wladik geht es hier besser als in der Großstadt. Wir wohnen im Moment bei einer netten Familie, die uns vorübergehend aufgenommen hat. Jetzt müssen wir uns erst mal neu orientieren und sehen, wie es dann weitergehen kann.
Am Berliner Hauptbahnhof gibt es eine LGBTIQ*-Anlaufstelle für Geflüchtete. Der Lesben- und Schwulenverband LSVD e.V. bieten queeren Geflüchteten aus der Ukraine Unterstützung und Hilfsangebotean.
Das Bündnis Queere Nothilfe Ukraineruft zu Spenden auf, die für die Versorgung oder Evakuierung queerer Menschen in der Ukraine verwendet werden. Link zur Spendenseite: https://altruja.de/nothilfe-ukraine/spende
Eine traurige Nachricht erreichte uns gestern aus der ukrainischen Stadt Charkiw: Die LGBTQ-Aktivistin Elya Shchemur (21) ist dort bei einem russischen Bombardenangriff getötet worden. Die Jurastudentin war unter anderem beim CSD Charkiw und beim CSD Kiew aktiv und half bei der Organisation mehrerer Frauendemos. Laut KharkivPride arbeitete sie seit Kriegsbeginn im Verteidigungsbüro in der Innenstadt.
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