Mutter lesbisch - Sorgerecht weg: „Enorme Kälte den Kindern gegenüber“
Bis in die 1990er Jahre konnten lesbische Mütter bei einer Scheidung das Sorgerecht für ihre Kinder verlieren. Wir sprachen mit der Historikerin Kirsten Plötz, die in Rheinland-Pfalz und NRW dazu geforscht hat. Sie geht von zehntausenden Betroffenen aus.
Studioline Koblenz Kirsten PlötzVon Franziska Schulteß
17.12.2025 - Über dieses strukturelle Unrecht ist noch wenig bekannt, obwohl es vermutlich Tausende betraf: Noch bis in die 1990er Jahre hinein entzogen Gerichte in der westdeutschen Bundesrepublik Müttern das Sorgerecht für ihre Kinder, wenn im Zuge einer Scheidung bekannt wurde, dass die Mutter lesbisch lebte. Viele versteckten aus Angst davor ihre Neigung oder gingen andere, für sie nachteilige Kompromisse ein. Die Historikerin Kirsten Plötz ist die erste, die diese Fälle systematisch erforscht hat. 2021 erschien ihre Studie zu Rheinland-Pfalz, im November stellte sie die Ergebnisse ihrer zweiten Studie zu NRW vor.
L-MAG: Frau Plötz, Gerichte in der Bundesrepublik Deutschland haben lesbischen Müttern ihre Kinder weggenommen. Wie kam es dazu?
Kirsten Plötz: Der entscheidende Punkt war bis 1977 das Ehe- und Familienrecht. Wenn die Ehefrauen von ihrer Aufgabe der Fürsorge für Mann und Kind abwichen, wurden sie hart bestraft. Nicht Strafe im Sinne von Gefängnis, sondern im Sinne von: Kein Anrecht auf Unterhalt und auf Sorgerecht, wenn es zu einer Scheidung kam. Es galt das so genannte Schuldprinzip...
...also wer, aus Sicht des Gerichtes, an der Scheidung schuld war...
Ja. „Schuldprinzip” klingt erst mal geschlechtsneutral. Aber das war es nicht. Wenn der Ehemann das Sorgerecht für die Kinder verlor, verlor er in der Regel gar nichts, da es ohnehin üblich war, dass die Kinder bei der Mutter blieben. Auch war es sehr selten, dass Ehemänner nach einer Scheidung auf Unterhalt angewiesen waren. Das heißt, die beiden großen Drohungen bei einer Scheidung – Sorgerechtsentzug und Verlust des Unterhalts – betrafen fast ausschließlich die Ehefrauen.
Inwiefern spielte es dann bei einer Scheidung eine Rolle, ob die Ehefrau lesbisch war?
Die Frauen wurden damals oft gedrängt, früh zu heiraten und schnell Mutter zu werden, noch bevor sie viel über sich selbst wussten. Dann haben sie vielleicht mit zweinundzwanzig im Kirchenchor eine Freundin gefunden und das erste Mal erlebt, warum die ganze Welt so ein Theater um das Küssen macht. Bei einer, die ich für meine Forschung interviewt habe, war das so. Ihr Mann ist drauf gekommen, dass seine Frau ein lesbisches Verhältnis hat. Bei der Scheidung wurde sie „schuldig“ gesprochen – und damit war das Sorgerecht für ihren Sohn weg.
Galt eine lesbische Neigung an sich schon als Verfehlung? Oder nur, wenn bewiesen werden konnte, dass die Ehefrau eine lesbische Beziehung führte?
Was als eine „Eheverfehlung” galt und was nicht, war im Gesetz nicht deutlich definiert. In den Handbüchern, die zur Auslegung des Gesetzes genutzt wurden, stand unter anderem: Homosexualität der Frau. Das Eherecht interessierte sich allerdings gar nicht dafür, was Frauen empfanden. Frauen waren keine selbstbestimmten Bürgerinnen, sondern sie hatten ihre Aufgabe als dienende Ehefrauen zu erfüllen. Lesbische Liebe war, so gesehen, ein möglicher Störfall in dieser lebenslangen Perspektive des Dienens.
Und nach 1977? Sie sagen ja: Diese Praxis gab es noch bis in die 90er Jahre hinein.
Ab 1977 änderte sich die Rechtslage. Danach ging es bei Scheidungen nicht mehr um Schuld, sondern um das „Kindeswohl” und bei welchem der beiden Elternteile dies besser gewahrt sei. Es gab viel Spielraum für die Vorstellungen der Gerichte und der Richter:innen, wie sie das jeweils auslegten. Und da spielte natürlich Homophobie eine Rolle. Ich kenne einige Fälle, bei denen die Gerichte urteilten, es sei generell nachteilig für ein Kind, bei einer lesbischen Mutter aufzuwachsen.
Ihre erste Studie zu dem Thema haben Sie in Rheinland-Pfalz gemacht. Jetzt haben Sie auch in NRW geforscht. Was schätzen Sie: Wie viele lesbische Frauen hat diese Praxis der Gerichte betroffen?
Das ist schwer zu sagen. Es gab ja nicht das eine problematische Gesetz, die eine Bestimmung, von der man dann so und so viele Fälle bei Gericht oder in den Verurteilungsstatistiken findet. Sondern versteckt unter der Deutung des Kindeswohls gab es eben auch diese Entzüge des Sorgerechts wegen lesbischer Liebe. Ich würde aber inzwischen den Anteil derer, die es betroffen hat, noch höher ansetzen, als ich zu Beginn meiner Forschung vermutet habe. Wahrscheinlich Zehntausende. Betroffen hat es ja nicht nur diejenigen, die das Sorgerecht verloren, sondern etwa auch die, die aus Angst davor ihre lesbischen Beziehungen verheimlichten.
Wie ist es möglich, dass dieses Unrecht jetzt erst langsam bekannt wird? Ihre Studie war die erste, die sich überhaupt damit befasst hat.
Viele Mütter haben geschwiegen, um ihre Familien zu schützen – und tun das häufig bis heute. Es gab etliche Mütter, die mir zum Beispiel kein Interview geben wollten. Sie sagten, sie wollten ihre Kinder vor dem Wissen schützen, was der Vater getan hat oder getan hätte. Eine andere Ursache liegt vielleicht darin, dass die lesbische Bewegung, ähnlich wie die Frauenbewegung, sich so schwer damit getan hat, Mütter zu integrieren. Bis heute erlebe ich auf Veranstaltungen, dass Mütter, die aus einer Ehe mit Kindern kamen und später lesbisch lebten, ganz berührt sind, wenn es für sie endlich möglich ist, in einem Bewegungszusammenhang von ihren Anliegen zu sprechen.
Das heißt, gesellschaftlich gab es kein Bewusstsein über dieses Unrecht, aber auch innerhalb lesbischer Bewegungen gab es lange keinen Raum, um darüber zu reden?
Das ist gut zusammengefasst. Es gab allerdings immer mal wieder Anläufe seitens der lesbischen Bewegung, zu sagen: Schickt uns eure Fälle, damit wir politisch was draus machen können. Das ist jetzt bei der Studie zu NRW nochmal deutlicher geworden. Die Bewegung war dort ja viel ausgeprägter als in Rheinland-Pfalz. Auf diese Aufrufe hin scheint wenig zurückgekommen zu sein. Aber ich fand es schön zu lesen, dass es da ab den 80er-Jahren durchaus Versuche gegeben hat.
Bei der Vorstellung ihrer ersten Studie hat Anne Spiegel, damals Familienministerin in Rheinland-Pfalz, diesen Entzug des Sorgerechts wegen lesbischer Lebensweise ganz klar als Unrecht bezeichnet. Was macht das mit den Betroffenen, wenn sie hören: Das war Unrecht?
Wir sind es gewohnt, dass der Mensch männlich ist. Und wenn Frauen ein typisches Frauen-Unrecht erfahren, sind wir es gewohnt, darüber wegzugehen. Deshalb ist es so wichtig, dass offizielle Stellen das als Unrecht benennen. Eine Auswirkung des gesellschaftlichen Schweigens über den Entzug des Sorgerechts ist ja, dass sich viele Betroffene vereinzelt fühlen und glauben, sie hätten selbst Schuld oder etwas falsch gemacht.
Können Sie mir von einem Fall erzählen, der sie besonders bewegt hat?
Da gab es viele. Ich erzähle den von Christa: Sie hat 1972 im Münsterland mit 23 geheiratet. In ihrer Ehe war sie nicht sehr glücklich, weil ihr Mann sich um sie als Person nicht viel gekümmert hat. Dann hat sie sich in eine Frau verliebt. Diese lesbische Beziehung hat sie verborgen, auch vor ihren drei Kindern. Sie sagt im Interview: „Man lernt zu lügen, das ist gar keine Frage, es ging ja nicht anders.“ Sie ist heimlich ausgezogen. 1987 wurde sie vom Amtsgericht Warendorf geschieden. Das hat das Sorgerecht auf den Vater der Kinder übertragen, weil, so erinnert sie sich, sie eben eine lesbische Beziehung führte, was der Vater der Kinder vor Gericht aussagte. Sie schaffte es, dagegen Berufung einzulegen, und das Oberlandesgericht entschied dann, das Sorgerecht sei auf sie zu übertragen. Was ich an dieser Geschichte eindrücklich finde: Diese Frau hatte so viele Ressourcen auf ihrer Seite. Sie kam aus einer gut situierten Familie, hatte die Unterstützung ihrer Eltern und einen guten Anwalt. Ihre Freundin hat für sie gelogen, es gab keinen Beweis für die lesbische Beziehung, und trotzdem war das Sorgerecht erstmal weg. Und wenn sie nicht den Mut gehabt hätte, Berufung einzulegen, was übrigens viele andere nicht geschafft haben, wären ihr die Kinder dauerhaft genommen worden.
Wie geht es jetzt mit ihrer Forschung weiter? Wird es irgendwann eine bundesweite Studie geben?
Das würde ich mir sehr wünschen. Erstmal forsche ich aktuell zum Land Berlin.
Lesbische und queere Paare brauchen heute immer noch die „Stiefkindadoption”, damit beide rechtlich anerkannte Elternteile eines gemeinsamen Kindes werden können. Inwiefern sehen Sie Parallelen zwischen der aktuellen Situation und den Fällen von damals?
Damals haben die Gerichte den Kindern die Mütter genommen, obwohl sie in fast allen Fällen, in die ich Einblick hatte, die wichtigsten Bezugspersonen im Leben der Kinder waren. Das kann mit Kindeswohl nichts zu tun haben – oder nur in der Weise, dass das so verstanden wurde, dass man Normen durchsetzen muss. Und da sehe ich eine Kontinuität. Seit über 20 Jahren wird über das deutsche Abstammungsrecht diskutiert. Und immer noch ist es möglich, dass ein Kind eines lesbischen Paares Vollwaise wird, wenn die leibliche Mutter vor Abschluss der „Stiefkindadoption” verstirbt. Das ist eine Parallele zu heute: Diese enorme Kälte den Kindern gegenüber.
Zeitzeug:innen und Betroffene sind weiterhin aufgerufen, sich bei Kirsten Plötz zu melden. Via E-Mail unter <kontakt@dont-want-spam.sorgerecht-lesbischer-muetter.de>

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