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Von der Schönheit des Queerseins: Hanna van Vliet, European Shooting Star der Berlinale 2022

Sie möchte mit ihrer Serie und dem Film „Anne+“ echte queere Vorbilder schaffen, redet gerne übers Queersein und hofft auf eine Rolle in „The L Word“: Wir unterhielten uns auf der Berlinale mit der lesbischen Schauspielerin Hanna van Vliet.

Millstreet Films/ Martijn van Gelder Hanna van Vliet in „Anne+: Der Film“

Von Theresa Rodewald

14.2.2022 - Weshalb ist es wichtig, dass queere Figuren von queeren Menschen gespielt werden? Wieso sollten queere Vorbilder auch Schwächen haben und wie könnte ein lesbisches Musical aussehen? Über diese und andere Fragen hat L-MAG mit der Schauspielerin Hanna van Vliet gesprochen.

Die Niederländerin ist einer der zehn „European Shooting Stars“, die heute im Rahmen der Berlinale geehrt werden. Die „Shooting Stars“ sind Nachwuchsschauspieler*innen aus ganz Europa und werden seit mittlerweile 25 Jahren auf der Berlinale vorgestellt.

Hanna ist hierzulande vor allem als Hauptdarstellerin und Ko-Schöpferin von Anne+ bekannt. Was als Crowdfunding-finanzierte Webserie auf YouTube begann, lief bald auch im niederländischen und britischen Fernsehen und wurde in Deutschland unter dem Titel Loving Her (2021) fürs Fernsehen adaptiert (ZDF Mediathek, unsere Serienkritik). Seit 11. Februar steht nun der gleichmamige Film zur Serie auf Netflix.

Anne+: Der Film dreht sich darum, dass Annes Freundin Sara (Jouman Fattal) nach Montreal zieht. Anne soll wenige Monate später nachkommen, aber irgendwie will sich die Freude darüber nicht so recht einstellen. Dann kritisiert auch noch der Verlag, der Annes ersten Roman veröffentlichen will, die neuen Kapitel als nicht gut genug. „Es scheint, als hätte deine Protagonistin ihren Weg verloren”, sagt die Lektorin. Gegenüber ihren Freund:innen hält Anne ihre Zweifel und Sorgen zurück. Dann trifft sie Lou (Thorn de Vries), nicht-binär, ein Drag-King und so ganz anders als Sara…

Turbulente Zeiten also für Anne und für Hanna van Vliet, die sich auch jenseits von Anne+ für die Repräsentation von Frauen und LGBTQI in Film und Fernsehen einsetzt.

EFT/ eventpress Hanna van Vliet (vorne, liegend) und die anderen neun European Shooting Stars 2022

Du erzählst auf der Anne+-Webseite, dass die Serie  entstanden ist, weil es in deiner Jugend keine positiven queeren Vorbilder in Film und Fernsehen gab. Seit die erste Staffel 2018 auf YouTube gestartet ist, ist Anne zu einem Vorbild für queere Menschen weltweit geworden. Gleichzeitig ist sie nicht perfekt, sie hat Schwächen. Weshalb war es euch wichtig, ein queeres Vorbild zu schaffen, das auch Fehler hat?

Ich denke, es geht darum, echte Menschen und echte Frauen zu zeigen. Das kann in Film und Fernsehen immer noch eine Herausforderung sein, zumindest aus meiner Erfahrung in der niederländischen Filmindustrie. Ich sehe zum Beispiel nicht oft vielschichtige Frauenfiguren oder nicht mehr als eine komplexe Frauenfigur in derselben Serie. Ich denke, es ist einfach sehr wichtig, echte Menschen zu erzählen, mit denen man sich identifizieren kann, vor allem, wenn sie queer sind. Auch für ein heterosexuelles Publikum ist es wichtig, echte queere Menschen zu sehen und nicht nur ein vorgefertigtes Bild oder Vorurteile, die man vielleicht gegenüber Menschen hat, die nicht zur eigenen Community gehören. Film hat also das Potenzial, eine empathischere Welt zu schaffen.

Millstreet Films Anne (Hanna van Vliet) und Sara ((Jouman Fattal) in „Anne+“

In Anne+ gibt es an einer Stelle eine große Auseinandersetzung zwischen Sara und Anne, und Anne ist wirklich nicht sehr nett, sie ist sogar ziemlich irritierend. Wir haben so viel Feedback von queeren und nicht-queeren Menschen bekommen, die sich in dieser Szene wiedergefunden haben oder mit sich selbst konfrontiert sahen und ich glaube, das liegt daran, dass man eine Figur sieht, die Fehler hat und anstrengend sein kann.

Und gleichzeitig sieht man eine Beziehung, die sich echt anfühlt, weil die Ursache des Konflikts zwischen Sara und Anne nicht ist, dass sie ihre Liebe oder ihre Sexualität verstecken müssen, sondern dass sie nicht ordentlich miteinander kommunizieren können.

Ja, genau.

Anne+ wurde auch international sehr gut aufgenommen. Hier in Deutschland haben Leonie Krippendorff und Marlene Melchior die Serie fürs Fernsehen adaptiert. Hast Du Loving Her gesehen?

Aber klar doch! Mit Leonie, der Regisseurin, habe ich letzten Sommer das ein oder andere Bier getrunken. Außerdem habe ich Banafshe Hourmazdi getroffen, die die Hauptrolle spielt.

Gibt es noch andere internationale Adaptionen der Serie?

Noch nicht, nein. Aber das wäre schon toll, denn damit hat ja alles angefangen. Wir wollten Vorbilder schaffen, mit denen wir uns identifizieren konnten. Ich kann also durchaus verstehen, dass sich ein deutsches Publikum noch besser repräsentiert fühlt in einer Serie wie Loving Her, die in Berlin spielt und einen deutschen Cast hat. Es wäre cool, wenn es zum Beispiel eine indische oder andere internationale Versionen von Anne+ gäbe.

Millstreet Films/ Martijn van Gelder Anne (Hanna van Vliet, l.) und Lou (Thorn de Vries) in „Anne+: Der Film“

In Deutschland hatten wir vor einem Jahr eine große Aktion von LGBTQI-Filmschaffenden …

Ich weiß, #ActOut ...

Genau! Wäre so eine große Gemeinschaftsaktion für queere Sichtbarkeit wie #ActOut in den Niederlanden überhaupt notwendig? Aus deutscher Sicht werdet ihr immer als aufgeschlossener wahrgenommen. Wie ist deine Erfahrung als queere Filmemacherin?

Nun, ich denke, wir sind vielleicht etwas aufgeschlossener als ihr, aber ich halte es auch für gefährlich, uns immer wieder dieses Narrativ von den Niederlanden als einem offenen, fortschrittlichen Land einzureden. Tatsächlich liegen wir auf dem Regenbogenindex – dem jährlichen Ranking aller Mitgliedsstaaten in der Europäischen Union, das auf den nationalen Gesetzen und Richtlinien basiert – auf Platz 13. Das ist wirklich nicht so hoch. Wir sagen uns gerne, dass wir das beste Land für queere Menschen sind, aber wenn man sich die Gewaltraten oder auch die Gesetzgebung anschaut, gibt es tatsächlich viel zu verbessern. Wir haben überlegt, so etwas wie #ActOut zu machen, es dann aber nicht getan. Aber in Anne+ war es uns deshalb wichtig, mehrheitlich mit queeren Schauspieler:innen zu arbeiten. Denn in den Niederlanden ist es tatsächlich so, dass schwule Männer beispielsweise nicht so viele Hetero-Rollen bekommen, aber Hetero-Schauspieler alle schwulen Rollen spielen. Solange die Repräsentation hier nicht ausgeglichen ist, sollte man meiner Meinung nach einfach die Mehrheit der queeren Figuren für Filme wie Anne+ mit queeren Darsteller:innen besetzen. Nicht nur, um Vorbilder zu schaffen, sondern auch, weil es den Film besser und nuancierter macht, wenn man mit Leuten arbeitet, die etwas vom Leben queerer Menschen verstehen.

Du hast an anderer Stelle erwähnt, dass es schön ist, wenn man Schauspieler*innen hinterher googeln kann und sieht, dass sie auch queer sind ...

Das machen wir doch alle, oder?

Ja, das ist etwas, mit dem man sich identifizieren kann. Und man ist enttäuscht, wenn sie nicht queer sind, weil man ja eine Verbindung zu ihnen aufgebaut hat. Die Vorbildfunktion, über die wir vorhin gesprochen haben, geht also über die Rolle hinaus. Es ist immer schön, wenn man sich nicht nur mit der Rolle identifizieren kann, sondern auch mit dem Star selbst.

Das stimmt und das haben wir mit Anne+ auch wirklich erlebt. Wir bekommen so viele Nachrichten von jungen und auch von älteren queeren Menschen, die uns für die Serie danken und uns erzählen, dass sie endlich sich und ihre Erfahrungen repräsentiert sehen. Das beweist schon, dass es vorher nicht genug dieser Geschichten gab. Aber letztendlich denke ich, jede:r kann und sollte alles spielen können. Es geht also nicht darum, dass eine queere Person immer von einer/ einem queeren Schauspieler:in gespielt werden muss. Ich denke, das ist solange wichtig, bis diese Repräsentation ausgewogen ist. Außerdem ist es wichtig, dass die Leute ihre eigenen Geschichten erzählen können, anstatt dass Geschichten über eine Community erzählt werden, von der man selbst keine Ahnung hat. Das war uns zum Beispiel auch im Film wichtig. In Anne+ geht es unter anderem um Drag und wir wollten eben nicht einfach so einen Film über Drag machen, obwohl die Drehbuchautorin Maud Wiemeijer, die Regisseurin Valerie Bisscheroux und ich selbst nicht zur Drag Community gehören. Also haben wir Thorn de Vries in der Rolle von Lou gecastet, Thorn ist selbst ein Drag King. Außerdem haben wir Amber Vinyard, Thorns „Mutter” aus dem House of Vineyard, gebeten, mit uns zu proben und eine Choreografie einzustudieren. Wir haben mit Amber einen Workshop über Drag gemacht, um alle aufzuklären. Auch unser Make-up wird im Film von echten Drag-Make-up-Artists gemacht. Es ist also wirklich eine Gemeinschaftsleistung.

Im queeren norwegischen Magazin MELK hast du über das Paradox geschrieben, dass du mit Anne+ das Queersein normalisieren willst, deshalb aber in jedem Interview als lesbische Filmemacherin auftreten musst. Wie gehst du mit diesem Paradox um, oder wie sähe eine ideale Situation für dich aus? Wäre es zum Beispiel erstrebenswert, nicht mehr über Sexualität sprechen zu müssten?

Nein, eigentlich nicht, ich spreche gern darüber. Der Film Anne+ betont die Schönheit des Queerseins und was es einem gibt, queer zu sein, ein bisschen mehr als die Serie. In der ersten Staffel der Serie haben wir uns auf die Normalität des Queerseins konzentriert. Ich denke, dass es wirklich wichtig ist, die Schönheit und Vielfalt der queeren Community zu feiern. Ich möchte nicht aufhören, darüber zu sprechen, denn ich liebe die queere Community. Es macht mir auch nichts aus, in eine Schublade gesteckt zu werden. Aber es wäre schön, wenn die Leute nicht urteilen oder aggressiv werden oder sich über die Schublade aufregen würden.

Ricardo Vaz Palma Hanna van Vliet (Mitte) im Weltkriegs-Drama „Lost Transport“, das voraussichtlich 2022 Premiere feiert

In dem Artikel schreibst Du, dass du nicht immer nur als ‘die lesbische Schauspielerin’ wahrgenommen werden willst. Da geht es dann ja nicht um die Schublade an sich, sondern darum, nicht auf seine Sexualität reduziert werden zu wollen.

Ja, aber ich habe den Eindruck, dass das nicht wirklich der Fall ist. Davor haben mich einige Leute zwar gewarnt oder warnen mich manchmal noch, aber ich habe nie das Gefühl, dass ich lediglich als lesbische Schauspielerin wahrgenommen werde. Dass ich als einer der Europäischen Shooting Stars hier bin, hat ja nicht nur mit Anne+ zu tun, sondern auch mit meinen anderen Projekten. Und diese Projekte sind sehr unterschiedlich. Ich habe in meinem Leben natürlich eine Menge heterosexueller Figuren gespielt, denn ob es uns nun gefällt oder nicht, die meisten Figuren sind heterosexuell. Es ist also schön, hier zu sein und einfach übers Schauspielern zu sprechen und darüber, wie wichtig es ist, neue, diverse Geschichten zu erzählen.

Was steht als Nächstes für dich an? Du bist Co-Creator von Anne+, ist das etwas, das du weiter verfolgen wollen? Und an welchen Projekten bist du generell interessiert?

Ich würde natürlich gerne mehr queere Projekte machen. Auch mit internationalen Filmschaffenden wie Joey Soloway, Creator, Drehbuchautor:in, Produzent:in der Serie Transparent (2014-2019). Irgendwann mit Joey Soloway zusammenzuarbeiten wäre ein Traum. Und natürlich würde ich eines Tages gern in The L Word zu sehen sein! Ich dachte mir, ich fange einfach damit an, diesen Wunsch zu verbreiten, und dann liest es hoffentlich jemand und eins führt zum anderen. Bei The L Word dabei zu sein wäre so cool. Jetzt ist mein Wunsch, erst einmal viele inspirierende Filmschaffende zu treffen, die an einer nuancierten Darstellung von Frauen interessiert sind.

parktheater.nl Hanna de Vliet (rechts) im Musical „De Tweeling“ (= Die Zwillinge) im Parktheater Eindhoven

Wie wäre es zum Beispiel mit einem queeren Musical? Für Deine Rollen in den Musicals Fiddler on the Roof (dt. Titel: Anatevka) und De Tweeling warst Du ja schon für Preise nominiert.

Stimmt. Ich finde es gibt viel zu wenig queere Musicals. Natürlich gibt es welche, aber die handeln alle von schwulen Männern. Ich habe auch schon darüber nachgedacht, ein Musical wie Die letzten 5 Jahre oder ein anderes Musical, das schöne Lieder hat, zu adaptieren. Die Idee war, einfach eine der Rollen mit einer Frau zu besetzen, sodass es zwei Frauen statt einer Frau und einem Mann sind. Aber das ist wegen der Art, wie die Musik geschrieben ist, schwierig. Wir müssten also auch die gesamte Musik ändern. Aber wenn jemand eine gute Idee hat, wäre ich dabei. Oder vielleicht einfach Rent… Ich würde auf jeden Fall das lesbische Duett „Take Me Or Leave Me” singen wollen.

Anne+: Der Film, NL 2021, Regie: Valerie Bisscheroux, Buch: Valerie Bisscheroux/ Hanna van Vliet/ Maud Wiemeijer, mit Hanna van Vliet, Thorn de Vries, Jouman Fattal u.a., 94 min., Netflix (OmU oder deutsche Synchronfassung)  - unsere Filmkritik

Die Serie Anne+ steht leider zurzeit bei keinem deutschen Streamingdienst.

 

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