Melissa Etheridge: „Wir können wachsen, wir können stärker werden“
Melissa Etheridge zählt zu den beliebtesten Künstlerinnen Amerikas. Im Sommer geht sie auf Europatournee. L-MAG sprach mit der Songwriterin im Videocall über Familie, lesbische Kultur und warum es gerade jetzt so wichtig ist, für die Community einzustehen

Erschienen in der L-MAG-Ausgabe 3-2025 (Mai/ Juni)
Von Sonya Winterberg
L-MAG: Wie geht es dir? Wo bist du gerade?
Melissa Etheridge: Hi! Ich bin bei uns zu Hause in Los Angeles. Meine Frau bringt mir gerade den Kaffee.
Wart ihr von den Waldbränden in Südkalifornien im Januar betroffen?
Wir mussten evakuiert werden. Die Brände kamen bis an den Rand unserer Nachbarschaft und wir waren zeitweise eingeschlossen.Wir haben großes Glück gehabt. Die Feuerwehrleute waren großartig – und ich liebe diese Stadt einfach immer noch so sehr.
Jede L-MAG-Ausgabe hat ein bestimmtes Heftthema. Im Mai/Juni geht es in der Titelgeschichte um unsere tierischen Begleiter. (Melissa lacht.) Hast du ein Haustier?
Ich habe zwei Hunde, die quasi beide von meinen Kindern entführt worden sind. Biscuit, einen lustigen Lhasa-Apso-Mischling, bekamen wir während der Pandemie, als wir hier alle zusammen wohnten, meine ganze Familie. Als es für meine Älteste an der Zeit war, zurück nach New York zu ziehen, sagte sie: „Also, ich nehme Biscuit mit.“„Was? Wie?“, habe ich völlig verdutzt gefragt. So haben wir Biscuit „verloren“. Dann bekamen wir einen weiteren Hund, weil die Zwillinge noch zu Hause waren und auch wieder einen Hund wollten. Da wir die Hunde gerne mit auf Reisen nehmen, müssen sie klein sein. Jetzt haben wir also noch Charlie, einen schwarz-grauen Malteser-Pudel-Mix – ein wahrer Engel. Er gehört Johnny, meinem jüngsten Sohn. Insofern werde ich mir in ein paar Jahren, wenn er auszieht, wieder einen anderen Hund suchen.
Was bedeuten dir diese Hunde?
Hunde erweisen einem bedingungslose Liebe. Es ist schön, sich um etwas zu kümmern und den Kindern beizubringen, wie es ist, jeden Tag für etwas verantwortlich zu sein. So lernen sie, aus sich herauszugehen und sich um jemand anderen zu kümmern. Außerdem bringt ein Hund so viel Leben ins Haus, selbst wenn einer von uns gerade allein hier ist.
Viele unserer Leser:innen lieben deine Musik, deine Stimme und vor allem dein Songwriting. Was können die Fans von deiner aktuellen Tournee erwarten?
Die Live-Performance ist sehr emotional und verletzlich. Ich werde auf jeden Fall die Songs spielen, die wir kennen und lieben, die wir einfach nur genießen können: „Bring Me Some Water“, „I’m The Only One“, „Come To My Window“ und „Like The Way I Do“. Und für diejenigen, die mein gesamtes Werk kennen, wähle ich ein paar Songs aus den weniger bekannten Alben aus. Bei jeder Show bringe ich die Hits, aber das Drumherum wird immer etwas anders sein, je nachdem, wo ich auftrete. Ich verspreche, dass es großartig werden wird!
Du hattest eine bemerkenswerte Karriere. Wie hat sich dein Songwriting in über dreißig Jahren verändert?
Zum Glück bin ich nicht mehr die 27-Jährige mit dem gebrochenen Herzen, die ich einmal war. Ich habe eine Menge gelernt. Ich habe eine Familie, Frau und Kinder und ein Leben mit anderen Hoffnungen, anderen Träumen. Ich schreibe immer noch über das, was mir wichtig ist, was mich bewegt, über Schmerz und Trauer und Erfolge. Aber die Erfahrungen dahinter sind sicherlich andere.
Wie wirkt sich die aktuelle politische Situation in den USA auf dich als Künstlerin aus?
Wir Künstler:innen bleiben immer in den eher geistigen Sphären. Musik ist überparteilich, Musik ist unparteiisch. Sie lebt im Herzen der Menschen. Auch wenn das politische Klima in unserem Land gerade durcheinandergerät, schreibe ich immer noch über die Einheit der Menschheit und über das Wunder der Vielfalt. Gerade in dieser Zeit der Unsicherheit, Angst und Spaltung ist es wichtig, Menschen durch die Musik zu vereinen und zu inspirieren.
Letztes Jahr hast du „I‘m Not Broken“ veröffentlicht, eine zweiteilige Dokumentation über dein Konzert in einem Gefängnis, und das dazugehörige Album. Wie kam es dazu?
Ich bin in Leavenworth, Kansas, aufgewachsen, einer Stadt, die bekannt ist für ihre Haftanstalt. Und als ich noch sehr klein war, vielleicht acht Jahre alt, kam Johnny Cash und spielte dort. Wir haben ihn in der Stadt nicht zu Gesicht bekommen, er traf nur die Gefangenen. Daher dachte ich, dass Gefängnisse sozusagen von Natur aus Orte für Entertainment wären. Später bin ich selbst dort aufgetreten und habe gesehen, wie dankbar die Gefangenen sind und welche Auswirkungen Musik für sie haben kann. Das wollte ich schon lange wiederholen. 2023 bekamen wir schließlich eine Drehgenehmigung. Mit einigen der Frauen habe ich über ein Jahr hinweg Briefe geschrieben, um eine Verbindung aufzubauen, bevor ich sie persönlich kennenlernte. Das hat mir eine Vorstellung davon vermittelt, wie unsere Gesellschaft über Verbrechen und Strafe denkt und weshalb Rehabilitation als Konzept so notwendig ist. Neunzig Prozent der dort inhaftierten Frauen haben in ihrer Kindheit ein Trauma erlitten, das sie verdrängen mussten. So kamen sie zum Drogenkonsum, was wiederum in die Kriminalität führte. Ein Teufelskreis. Jetzt sind diese Frauen von den Drogen weg und versuchen, ihr Leben in den Griff zu bekommen. Dafür fehlt ihnen das Zuhause, ihr familiäres Umfeld. Ich würde mir mehr Verständnis für frühkindliche Traumata wünschen und bessere Hilfen, bevor Menschen kriminell werden.
Deine Memoiren, „Talking to My Angels“, sind noch nicht auf Deutsch erschienen …
Das soll aber bald geschehen. Wir arbeiten daran.
Was hat dich dazu inspiriert, zwanzig Jahre nach deiner ersten Autobiografie „Offen und ehrlich“?
Der Tod meines Sohnes Beckett zwang mich zur Auseinandersetzung mit mir selbst, um daran zu wachsen und das Geschehene besser zu verstehen. Ich habe immer noch überall im Haus Bilder von ihm. Er ist immer noch bei mir. Er ist nur nicht mehr körperlich anwesend. Ihm habe ich das Buch gewidmet.
Hat der Song „Here Comes the Pain“ auch mit dieser Erfahrung zu tun?
Ich bemerkte seine Probleme mit Drogen, Heroin, Schmerzmitteln und Fentanyl, recht früh. Davon handelt der Song.
In den Anfangsjahren deiner Karriere hast du viel in Lesbenbars gespielt. Die sind nun am Verschwinden, in den USA gibt es nur noch eine Handvoll davon. Was ist da passiert?
Vor dreißig Jahren waren die Bars, abgesehen von politischen Treffen, der einzige Ort, an dem man sich sicher sein konnte, Lesben zu treffen. Damals haben wir uns alle so kennengelernt. Alkohol war ein großes Problem in der queeren Community. Ich habe fünf Abende die Woche in Bars gespielt und zum Glück nicht getrunken, aber es war Teil der Kultur. Als das Internet aufkam, wurde uns klar, dass wir nicht mehr jeden Abend trinken gehen müssen und wir haben bessere Orte gefunden, an denen wir uns treffen können, zum Beispiel Cafés statt Bars. Dass die Trinkkultur nachgelassen hat, ist wahrscheinlich gut so, aber leider haben wir damit auch diese liebevoll-verrückten Plätze verloren, die wir einst hatten.
Dein Privatleben wurde öffentlich, als du dich auf dem Ball zur Amtseinführung von Bill Clinton geoutet hast. Wie erinnerst du diesen Moment?
Ich war von diesen großen Stars unserer Community aus Hollywood umgeben. Wir steckten mitten in der Aidskrise, sahen unsere Freund:innen sterben und niemand tat etwas dagegen. Wir erkannten, wie machtvoll es ist, sich zu outen und Haltung zu zeigen. Ich wollte meine Bekanntheit so gut wie möglich nutzen, um zu sagen: „Hey, du hörst zu Hause meine Musik, und ich bin queer. Lass uns das als normalen Teil der Gesellschaft verstehen.“ Sich politisch zu engagieren und zu helfen, dass Clinton und Gore gewählt werden, und anschließend den Erfolg zu sehen, erleichterte es mir, mich zu outen und diese Reise zu beginnen.
Es gibt wohl kaum einen stärkeren Kontrast als den zwischen Clinton und Trump. Hast du Hoffnung, dass sich in den kommenden vier Jahren etwas positiv ändern könnte?
Es ist, als ob die Verrückten den Schlüssel zum Irrenhaus bekommen hätten. Das lässt sich nicht ändern, wir können nur uns selbst verändern. Wir können lernen, wir können wachsen, wir können stärker werden, und wir können mehr Einheit fordern. Wir müssen da offensichtlich erstmal durch und das Beste draus machen. Also, auf geht’s.
Meine letzte Frage bezieht sich noch mal auf die Tournee. Hast du eine besondere Beziehung zu Deutschland?
Neben Kanada war Deutschland das erste Land, in dem ich richtig Fans hatte und Erfolge feierte. Gerade gestern noch habe ich meinen Freund:innen erzählt, wie ich im November 1989 in Berlin war und den Fall der Mauer direkt miterlebt habe. Ich habe jedes Mal wieder Tränen in den Augen, wenn ich davon spreche. Meinen Freund:innen sagte ich: „Seht mal, das hat mir damals Hoffnung gegeben, dass Menschen etwas ändern, etwas bewegen können. Sie können buchstäblich Mauern einreißen!“ Dass ich immer hoffnungsvoll für alles und jeden bin, geht darauf zurück. Und deshalb fühle ich mich Deutschland so besonders verbunden.
Von 16. Juni bis 12. Juli tourt Melissa Etheridge durch Europa, alle Orte und Termine auf melissaetheridge.com.

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